Demografie interdisziplinär: Älter, kranker, einsamer?  

Foto: Thinkstock/iStock
Foto: Thinkstock/iStock

15.07.2016 – Kann ein Weniger (an Menschen in Deutschland) auch ein Mehr (an Möglichkeiten für den Einzelnen) bedeuten? Mit dieser Frage haben sich Vertreterinnen und Vertreter der FOM Institute und KompetenzCentren befasst. Herausgekommen sind 13 individuelle Kurzbeiträge, die vielfältige Impulse und Denkanstöße liefern. Heute setzt sich Prof. Dr. Stefan Heinemann als Beirat des KCC KompetenzCentrum für Corporate Social Responsibility mit medizin- und wirtschaftsethischen Problemstellungen des demografischen Wandels auseinander.

Unsere Gesellschaft wird älter – und das kann nicht ohne Folgen für den Gesundheitssektor bleiben. Welche Besonderheiten sind aus ethischer bzw. medizinethischer Sicht beachtlich?

Dass der demografische Wandel zusammen mit dem medizinischen Fortschritt der wesentliche Treiber einer massiv veränderten Bedarfsstruktur des Gesundheitswesens ist, wird kaum bestritten. Viele von uns werden immer älter und das hat Folgen, auch wenn gilt: Altern ist keine Krankheit (Akademikergruppe Altern in Deutschland 2009, S. 80). Dass die Finanzierung steigender Pflegeleistungen und intensiverer Behandlungsmethoden für ältere Patientinnen und Patienten durch die GKV in der Zukunft immer schwerer zu leisten sein wird, hat unheilvollerweise dieselbe Ursache, wie der Finanzbedarf selbst: Immer mehr ältere Menschen und gleichzeitig immer weniger Menschen der zukünftigen Generation. „Ethik“ und „Demografie“ zusammen zu untersuchen ist indes keine neue Idee, schon im 19. Jahrhundert war dieser Gedanke keine Überraschung.

Zumindest solange man an einem solidarischen Finanzierungsmodell festhält und einen gerechten Preis für medizinische Leistungen nicht dort anzunehmen bereit ist, wo sich jener auf einem freien Markt schlicht faktisch bildet (so Hobbes, T. 1987). Wenn also ein stärkerer Mittelzufluss schwerlich zu erwarten ist, muss effizient(er) agiert und wohl auch reallokiert werden, um einen Leistungsabfall zu vermeiden. Da jede Effizienz allerdings ihre systemische Grenze hat, dürften ethische Reflexionen speziell gerechtigkeitstheoretischer Natur eine wesentliche Dialogebene darstellen für diejenigen Diskursteilnehmer, die an einer rationalen Bearbeitung solcher Herausforderungen ein Interesse haben. Mithin ist die spezifisch managementorientiert-medizinethische Betrachtung der Herausforderungen eines Umganges mit immer mehr und immer älteren Menschen eine zumindest nicht auszublendende Reflexionsdimension. Die managementorientierte Medizinethik reflektiert die Legalität, Legitimität, Effektivität und Effizienz des Managementhandelns in der Gesundheitswirtschaft im Rahmen der übergeordneten Leitfrage/Zweck (Was darf und soll geschehen, damit Krankheiten geheilt und Leiden gelindert werden?) sowie mit Blick auf die institutionelle Implementierbarkeit/Mittel (Was ist faktisch durchsetzbar?).

Welche Fragen sind aus ethischer Perspektive von Relevanz?

Gibt es „überzeugende ethische Gründe, die solidarisch finanzierten Gesundheitsausgaben zu begrenzen“? (Marckmann, G. 2007, S. 11-17) Und welche Maßnahmen sind in diesem Sinne wirtschaftlich zielführend und vor allem legitim? Oder ist dies keine legitime Option und es muss auf gesamtvolkswirtschaftlicher Basis zu Lasten anderer staatlicher Aufgabenbereiche umverteilt werden? Konkret mit Blick auf die Demografie: Was passiert, wenn die Deckungslücken der Kassen mit vielen älteren Patientinnen und Patienten wachsen (Morbi-RSA-Problem)?

Solche Fragen stehen in einem eigentümlichen Spannungsfeld: Kaum ein materialethischer Bereich ist für das unbefangene Bewusstsein als ergiebiges Handlungsfeld heute mit Blick auf eine alternde Gesellschaft so prägnant einsichtig wie die Medizinethik. Das Gegenteil gilt für einen anderen materialethischen Bereich: Die Wirtschaftsethik. Hier bricht das Spannungsfeld auf zwischen dem medizinethischen Bereich, der immer schon aus der traditionellen Perspektive des Heilens gedacht wurde und dem zweiten Bereich, der zwar viel zitiert aber doch wenig ernsthaft vertreten wird. Mithin lässt sich prima facie an der Ergiebigkeit einer Beschäftigung mit der Relation von Ethik und Ökonomie in Zeiten von Korruption und Green Glamour durchaus zweifeln.

Als eine große Herausforderung – Ethik und Gesundheitsökonomie sollen zusammen gehen. Wie kann das funktionieren?

Das Problem ist das folgende: Gesundheit und Geld gehen jeden existentiell etwas an, jedoch kann man Erstere mit Letzterem nicht final kaufen. Aber zu einem nicht unerheblichen Anteil unterstützen. Damit ist es eine eminente Frage der Gerechtigkeit, wem diese Güter in welchem Maße zukommen sollten. Hier ist auch das Einfallstor für eine leider oft ideologisch gefärbte Diskussion, die das Thema demografischer Wandel zur Infragestellung oder Zementierung von Themen wie „Rentensystem“ oder „Sozialstaatlichkeit“ (aus)nutzt.

Dagegen stellt sich die wissenschaftlich anzugehende Frage, wie in Zeiten von bisher kaum gekannten seismischen Vertrauensphänomenen in der Wirtschaft bei gleichzeitiger Einsicht in die Tatsache, dass auch das Gesundheitswesen mit der Grundfrage der Mangelbeherrschung zu tun hat, die Sphären von Medizin, Ethik und Ökonomie versöhnt werden können. Die Altersdemografie wird eine Kosten- und Knappheitsexplosion bringen. Ohne Effizienz wird es nicht gehen; mit nur-Effizienz aber auch nicht, da gerade alte Menschen vor allem Zeit benötigen. Die hier knapp vertretene These lautet: Die Medizin kann die Knappheit ebenso wenig leugnen, wie die Notwendigkeit ihrer ethischen Selbstvergewisserung.

Die Ökonomie wird die Medizin als Markt wahrnehmen, missversteht sich allerdings, wenn sie meint, ohne ethische Grundlagen ökonomisch (!) in the long run erfolgreich sein zu können. „Wo die Urteilsebenen der sehr unterschiedlichen Praxen von Ethik (Was soll geschehen, weil es gut ist?), Medizin (Was muss geschehen, damit Krankheiten geheilt und Leiden gelindert werden?) und Ökonomie (Wie ist zu handeln, dass Mangel beherrschbar wird?) nicht in einer übergeordneten Urteilsebene im Sinne einer Medizinethik für Ärzte und Manager integriert werden, wird eine eher cartesianisch-technische Sicht auf das Humanum befördert.“ (Heinemann, S. / Miggelbrink, R. 2011, S. 107-144) Eine Solche aber ist bereits wissenschaftstheoretisch offensichtlich verfehlt: Menschen sind nämlich keine Steine und der Wirtschaftswissenschaftler kein Sozialphysiker.

Im konkreten Fall des Managements in der Gesundheitswirtschaft ist eine entsprechend reduktionistische Sicht auf den Menschen nochmal verstärkt unter den oben skizzierten Vorzeichen des demografischen Wandels nicht zu rechtfertigen. Die konkreten medizinethischen Fragestellungen werden heute selten isoliert von wirtschaftlichen Überlegungen formuliert: Wie lange soll man welche Ressourcen für ein ohnehin, nach allem fachlich annehmbaren, zeitnah endendes Leben aufwenden? Wird die – zumindest unter der Prämisse einer christlich orientierten Wertethik – als infungibel und unaufgebbar angenommene Würde des Menschen im Alter nicht noch fragiler und bedarf der höchsten Anstrengung ihres Erhaltes in weitgehender Autonomie? Welche Interessen der älteren Patientinnen und Patienten sind universalisierbar und gerecht?

Brauchen wir einen demografiesensitiven Generationsvertrag mit konkreten Angeboten wie Generationenwohnen, altersgerechten Praxen, Kliniken, Demenzcafes und tatsächliches life-long-learning? Eine neue Kultur der chancenorientierten Beschränkung?

Es wird eine axiologische Betrachtung im Sinne einer managementorientierten Medizinethik mit der Grundfrage nach einer heute zukunftsfähigen Verteilung von gesundheitsfördernden Gütern mit Fokus auf die älteren Menschen angestellt. „Entgegen einer rein kundenorientierten Marketingstrategie ist im medizinökonomischen Bereich ein recht verstandenes partnerschaftlich-treuhänderisches Eintreten gefordert für diejenigen Interessen der Patientinnen und Patienten, die sich als universalisierbar erweisen und damit als ethisch unabweisbar. Die Erkenntnis und Wahrnehmung dieser gerechten Interessen fordert die konsiliarische Kooperation aller am Patientenwohl Beteiligten. Für diese Leistung muss ein medizinischer Anbieter Ressourcen freihalten. Umgekehrt bietet ein entsprechendes Verfahren auch die Möglichkeit, unnötige Kosten aus einer ethisch weder gebotenen noch unter Umständen zulässigen Überversorgung zu vermeiden.“ (Heinemann, S. / Miggelbrink, R. 2011, S. 140) Es muss also wirtschaftlich effizient vorgegangen und dabei gleichzeitig anerkannt werden, dass es Bedarfe gibt, die wirtschaftliche Grenzen transzendieren und alle Bemühungen unternommen werden, mit ethischen Argumenten der Knappheit Herr zu werden. Auch indem gefragt wird, wo im Gesundheitsbereich einem hohen Ressourceneinsatz ein vergleichsweise geringer Nutzen gegenübersteht. Hier ergeben Reallokationen in Richtung altersgerechter Versorgung bspw. Sinn – ohne gleich eine negative enthumanisierende Rationalisierung zu sein. Nicht zuletzt, weil dies effizient sein wird und nur so eine, der Würde alter Menschen gemäße, medizinische Versorgung sichergestellt werden kann. Die Grenze zwischen nicht wünschenswerter Rationalisierung und wünschenswerten Effizienzgewinnen ist allerdings fließend und mit Methoden der BWL nicht zu ziehen, hier wird man ohne Wertereflexionen nicht weiterkommen. Eine alternde Gesellschaft ist also mindestens auch ein medizinethisches und medizinökonomisches Problem des Sicherns der Würde alter Menschen bei gleichzeitiger Beachtung der Rechte kommender Generationen. Und die Würde einer Gesellschaft als Ganzes zeigt sich nicht zuletzt in ihrem Umgang mit den alten Menschen sowie ihrer Wertschätzung der legitimen Bedürfnisse kommender Generationen. Älter, kranker, einsamer – so wird es vielleicht kommen, aber zum Glück muss es das nicht. Es liegt an uns, Simone de Beauvoir zu widerlegen.

Prof. Dr. Stefan Heinemann, Prorektor Kooperationen

 

Literatur

Akademikergruppe Altern in Deutschland (2009): Altern in Deutschland (Bd. 9) – Nova Acta Leopoldina, Stuttgart.

Heinemann, S. / Miggelbrink, R. (2011): Medizinethik für Ärzte und Manager, in: Thielscher, C. (Hrsg.): Medizinökonomie, Wiesbaden, S. 107-144.

Hobbes, T. (1987): Leviathan, London/Harmondsworth.

Marckmann, G. (2007a): Geriatrie im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie, in: Geriatrie Journal (2), S. 11-17.

 

Die weiteren Beiträge der Reihe „Demografie interdisziplinär“ im Überblick: