Demografie interdisziplinär: Arbeitest Du noch – oder lebst Du schon?  

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18.03.2016 – Kann ein Weniger (an Menschen in Deutschland) auch ein Mehr (an Möglichkeiten für den Einzelnen) bedeuten? Mit dieser Frage haben sich Vertreterinnen und Vertreter der FOM Institute und KompetenzCentren befasst. Herausgekommen sind 12 individuelle Kurzbeiträge, die vielfältige Impulse und Denkanstöße liefern. Heute setzen sich Prof. Dr. Ulrike Hellert und Gundula Grzesik vom iap Institut für Arbeit & Personal mit der Frage auseinander, inwieweit altersgerechte Arbeitszeitmodelle eine geeignete Antwort auf die demografische Entwicklung sind.

Durch die demografische Entwicklung steht unserer Gesellschaft eine enorme Veränderung bevor. Daher werden Konzepte benötigt, wie eine ältere und schrumpfende Gesellschaft sich aufstellt, um weiterhin erfolgreich wirtschaften zu können. Erste Konsequenzen kommen auf die Unternehmen bereits heute in einigen Regionen zu. Über 50 Prozent der im Mittelstandsbarometer (Ernst & Young, 2011) befragten Unternehmen müssen bereits Umsatzeinbußen hinnehmen, weil geeignete Fachkräfte nicht verfügbar sind. Um bestehende Personallücken zu schließen, spielen zum einen die berufliche Bildung und betriebliche Weiterbildung eine große Rolle, andererseits werden die Themen Zuwanderung und höhere Frauenerwerbstätigkeit als wichtige Erfolgsfaktoren diskutiert.

Daneben gibt es eine weitere wichtige Stellschraube, an der die Unternehmen drehen können – die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten. Denn: Flexible Arbeitszeiten ermöglichen eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, verbessern die Gesundheit der Beschäftigten, erhöhen die Motivation und erweitern den Handlungsspielraum. Für Unternehmen ermöglichen flexible Arbeitszeiten optimale Öffnungs- und Betriebszeiten, sie verringern die Fluktuation und Krankenstände, verbessern die Reputation und Arbeitgeberattraktivität. Dies gelingt allerdings nur dann, wenn die flexiblen Modelle fair zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten, basierend auf den rechtlichen Grundlagen, ausgehandelt werden.

Wie destatis in der letzten Arbeitskräfteumfrage 2010 feststellte, arbeiten jedoch immer noch rund 58 Prozent der Beschäftigten in starren Arbeitszeitmodellen. Hier zeigt sich ein großes Potenzial, welches aufgrund der Anforderungen des demografischen Wandels gehoben werden will. Vor allem der Blick auf eine gute Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten lenkt den Scheinwerfer auf die Arbeitszeitgestaltung, die alternsgerecht sein sollte.

Alternsgerechte Arbeitszeiten sind prozessorientiert, haben präventiven Charakter und versuchen frühzeitig, mögliche Langfristfolgen belastender Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen zu vermeiden (Seifert 2008). Alternsgerechte Arbeitszeitgestaltung betrachtet das gesamte Arbeitsleben. Und dieses Arbeitsleben wird sich verlängern – zunächst durch die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre und weitere Erhöhungen werden sicher folgen. Um die Gerontologin Ursula Lehr zu zitieren: „Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern wie man alt wird“.

Das Konzept der alternsgerechten Modelle sieht eine Orientierung an den verschiedenen Lebensphasen der Menschen vor. Diese verlaufen nicht mehr regelmäßig sondern sehr vielfältig. Die Familienzeit kann zwischen dem Lebensalter von 20 bis ca. 60 Jahre liegen – je nach Familienentwurf der Eltern. In der Generation Y gehört der Wunsch nach einer aktiven Vaterschaft und nach Angeboten zur Vereinbarkeit von Familie & Beruf zu einem relevanten Faktor bei der Arbeitgeberauswahl (Schmicker / Wassmann / Kramer 2011). Hinzu kommt die Pflegeverantwortung für Angehörige, die insbesondere mit der demografischen Entwicklung zunimmt.

Die Schul- und Bildungszeiten haben sich ebenfalls verschoben. So sind Berufsausbildung und Studium nicht mit spätestens 28 Jahren abgeschlossen, sondern ein Studium neben dem Beruf sowie Weiterqualifizierungen bis zum Rentenalter nehmen zu. Dies verdeutlicht, dass die veränderten Lebensverläufe zusammen mit der demografischen Entwicklung geradezu eine Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen erfordert, denn nur so sind die verschiedenen Lebenskonzepte mit dem Beruf zu synchronisieren.

Eine aus dem Gleichgewicht geratene Work-Life-Balance führt zu Krankheiten. Die Zahl der psychischen Krankheiten hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Flexible Modelle wie Funktionszeiten (Gleitzeit ohne Kernzeit), verschiedene Teilzeitmodelle und Home-Office-Angebote bieten hier gute Lösungsmöglichkeiten, um den Beschäftigten mehr Handlungsspielraum zu bieten und Stress zu vermeiden. Gerade an stark gesundheitsbelastenden Schichtarbeitsplätzen ist die Gestaltung der Schichtpläne, wie im Arbeitszeitgesetz (§ 6) beschrieben, nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen festzulegen. So sollten beispielsweise nicht mehr als drei Nachtschichten hintereinander gearbeitet werden und genügend freie Tage zur Erholung eingeplant werden. Schichtpläne ausschließlich für „ältere“ Beschäftigte anhand des kalendarischen Alters zu entwickeln, greift zu kurz, da das Geburtsdatum kein zuverlässiger Indikator für körperliche und geistige Fähigkeit ist. Der Alterungsprozess ist vielmehr ein individueller, kontinuierlich verlaufender Prozess und von vielen Faktoren abhängig. Daher sollte eine gute Schichtplangestaltung einem ganzheitlichen Ansatz folgen und für Jung und Alt gleichermaßen gesundheitsfördernd aufgebaut sein (Hellert 2012).

Um zu einer erfolgreichen, alternsgerechten Arbeitszeitgestaltung zu gelangen, ist ein partizipativer Ansatz im Unternehmen Voraussetzung. Oberstes Ziel ist es, basierend auf den geltenden gesetzlichen und tarifrechtlichen Bestimmungen, den betrieblichen Belangen und den Interessen der Beschäftigten durch eine systematische Vorgehensweise ein maßgeschneidertes Modell zu entwickeln (Hellert 2013). Mit solchen innovativen Arbeitszeitangeboten, die den Unternehmen die gewünschte Flexibilität geben, auf Kundenwünsche einzugehen und die die Interessen der Beschäftigten in ihrer persönlichen Lebenssituation berücksichtigen, können Unternehmen für Fachkräfte interessant bleiben und werden. Die Einführung von innovativen Arbeitszeitmodellen ist ein Chance-Management-Prozess, der Zeit, Struktur und Kommunikation erfordert. Eine flexible und alternsgerechte Arbeitszeitgestaltung kann jedoch die Grundlage zum positiven Umgang mit der alternden Gesellschaft im Erwerbsleben darstellen und den demografischen Wandel wirksam begleiten.

Prof. Dr. Ulrike Hellert und Gundula Grzesik, iap Institut für Arbeit & Personal

 

Literatur

Destatis Arbeitskräfteumfrage (2010): Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

Der demografische Wandel – Zahlen, Daten, Fakten (2013). Hrsg. dnn – Das Demographie Netzwerk, Dortmund.

Hellert, U. (2012): Schichtplangestaltung für Jung und Alt, in: VD MA Nachrichten.

Hellert, U. (2013): Nacht- und Schichtarbeit modern gestalten, 3. Auflage, Münster, Berlin.

EY Mittelstandsbarometer Deutschland – März 2011, Ernst & Young, Stuttgart.

Wassmann, S. / Schmicker, S. / Kramer, C. (2012): Arbeitgeberattraktivität aus Sicht von Studierenden. Studie 2011. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaften e.V. (Hrsg.),Gestaltung nachhaltiger Arbeitssysteme – Wege zur gesunden, effizienten und sicheren Arbeit. Heidelberg.

Seifert, H. (2008): Alternsgerechte Arbeitszeiten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn.

 

Die weiteren Beiträge der Reihe „Demografie interdisziplinär“ im Überblick: