Wirtschaft vordenken: Buzzwords der ökonomischen Zukunftsdebatte – Teil 5: Künstliche Intelligenz
Corporate Foresight ist als Instrument der Zukunftsvorsorge seit Jahrzehnten etabliert, effizient und nützlich. In dieser Serie über ökonomische Zukunftsforschung nehmen wir aktuelle Entwicklungen ins Visier, unter anderem Bewertung und Einordnung der sogenannten „Moonshot-Methode“, „New Leadership“ in modernen Unternehmen, Digitalisierung auf humane Art und was mit künstlicher Intelligenz auf dem Spiel steht.
Künstliche Intelligenz und ihre Effekte auf den Arbeitsmarkt
Werden wir in wenigen Jahren morgens im Büro von einer auf uns zurollenden Alexa begrüßt? Dass es so kommen könnte, ist eine frühe Intuition zahlreicher KI-Experten, u. a. von Konrad Zuse, dem Entwickler programmierbarer Rechner, der befürchtet: „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“
Aus Sicht wissenschaftlicher Zukunftsforschung zeichnet sich dieses Szenario längst ab, aus simplen wie komplizierten Gründen. Aus simplen, weil Europa – wie die ganze Welt – dem US-Technologieleitbild folgt und KI, Big Data beziehungsweise die Digitalisierung als betriebswirtschaftlichen Selbstläufer versteht. Die globale Ökonomie steckt in einem Rat Race, bei dem gilt: Wer zuerst kommt, definiert neue Märkte. Dieses Mindset ist inzwischen messbar: Fast 90 Prozent der befragten Entscheider und Entscheiderinnen aus einer Studie von 2017 sind überzeugt, ihr Unternehmen müsse in den nächsten fünf Jahren intelligente Automatisierungstechnologien einsetzen – in der Hoffnung auf Kostensenkungen, die Kapazitäten für Innovationen schaffen. Die gleichzeitig vorhandene Skepsis vieler Unternehmen („Verschlingt Geld für Programme“, „Benötigt Zeit für Auswahl und Einarbeitung“, „Erfordert Spezialisten“) wird von der IT-Industrie mit der Behauptung gekontert, dass eine schnelle Umsetzung weniger koste als eine spätere Nachholjagd.
Bei der Frage nach Konsequenzen für den Arbeitsmarkt wird es allerdings komplizierter. Solche Prognosen sind bislang Kaffeesatzleserei: Jeder pflegt seine Weltsicht – und gegenläufige Effekte (Überschätzung von Technologien, Wandel von Berufsbildern, neue gesetzliche Regulierungen) werden kaum berücksichtigt. Eine erste Untersuchung dazu gab den alarmistischen Duktus der Debatte vor. Die Studie der Oxforder Wissenschaftler Frey und Osborne sagte 2013 voraus, dass 47 Prozent der US-Beschäftigten in Berufen arbeiten, die in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren (weg)automatisiert werden (können). Dabei schockierten vor allem die Aussagen über als gefährdet eingeschätzte Berufsgruppen: Nicht nur sollen einfache Büroangestellte, BuchhalterInnen (94-prozentige Automatisierungschance) oder Versicherungsvertretende (92 %) zu den Verlierern und Verliererinnen zählen, sondern auch Wissensarbeiter und „Kreative“ (gut lesbare Zeitungsartikel etwa werden inzwischen auch von KI geschrieben). Ebenso könne HR-Personal durch Sprachanalysesoftware ersetzt werden (also die Bewerberauswahl durch ein Programm erfolgen, das die Aspiranten psychografisch ‚scannt’); und sogar im juristischen Bereich sind beratende KI einsetzbar. Anwälte, die auf stets gleiche, formalisierte Kommunikation spezialisiert sind, oder Rechtsanwaltsfachangestellte können ‚wegrationalisiert’ werden.
Mehr als kompliziert – nämlich komplex – wird es jedoch bei der Frage, was das Bot-Zeitalter individuell wie gesamtwirtschaftlich bedeutet. Hier reichen die Szenarien von steigender Ungleichheit (bei der Einkommensverteilung: Qualifiziert versus Unqualifiziert; zwischen Arbeit und Kapital: Lohneinkommen versus Unternehmereinkommen; sowie regional: Digitalisierungszentren versus abgehängte Regionen) über Zukunftsbilder einer Verschmelzung von Mensch und Maschine (finanziell erreichbar jedoch nur für bestimmte Personenkreise) bis hin zu einer Weltwirtschaft, in der die Maschinen so billig sind, dass die Beschäftigten einen Lohn akzeptieren müssten, der kein Überleben ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird zumeist das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert – womit sich ein zentrales Motiv von dessen Befürwortern erhellt: Ohne einen grundlegend neuen „Gesellschaftsvertrag“ ist eine KI-Gesellschaft politisch kaum durchsetzbar.
Und Konrad Zuse? Seine Vorahnung, dass sich die Menschen der Maschine anpassen, lässt sich in einigen Aspekten bereits beobachten. Ein Alien von seinem Raumschiff aus könne wohl schon heute nicht mehr sagen, ob Tech-Riesen wie Apple oder Amazon das Verhalten der Bevölkerung kontrollieren oder umgekehrt, bemerkte der US-Ökonom Joseph E. Stiglitz süffisant. Die Angst vor der „Übermacht der KI“ ist in der Praxis bereits weitgehend implodiert: Denn wenn Menschen in die technologische Evolution von vornherein mit einbezogen werden (woran Verbraucher und Verbraucherinnen, Unternehmen wie Regierungen gleichermaßen starkes Interesse haben), werden sie diese Übermacht gar nicht mehr wahrnehmen. Viele Menschen artikulieren zwar ihr Unwohlsein über Datenkraken wie Facebook oder Google (und die jüngsten Datenskandale halten diese Skepsis lebendig), aber den Komfort aufzugeben, den diese Unternehmen uns bieten, und an den wir uns gewöhnt haben, ist keine Option mehr.
Eine Menge von dem, was volkswirtschaftlich aus dem KI-Einsatz folgt, ist inzwischen nur noch Statistik. Ökonomische Zukunftsforschung beschäftigt sich jedoch nicht mit Statistik, sondern mit Alternativen: Welche Innovationen liegen in europäischen Unternehmen nahe, die sich eine andere Marktwirtschaft vorstellen als die amerikanische? Auf dem OMR Festival 2018, einer Digital-Marketingmesse in Hamburg, rief Scott Galloway, aus New York zugeschalteter Experte für digitale Markenkompetenz, in seiner Rede über den ungebremsten Größen- und Machtwahn der Silicon Valley-Tech-Riesen dem verdutzten Publikum zu: „Europe, we need you!“ Unser Wirtschaftsraum steht (auch im Technologiesektor) für eine andere, attraktivere Ökonomie als der Fluchtpunkt, der sich über die amerikanische Digitalisierung abzeichnet. Wenn die europäische Wirtschaft überhaupt eine Chance hat, den immensen Vorsprung der Amerikaner wieder aufzuholen, dann damit, dass wir KI zu unseren Zielen, Normen und Zwecken einsetzen („AI made in Europe“). Und das bedeutet: Nicht um noch mehr SUV und Smartphones zu verkaufen oder die sozialen Netzwerke mit noch mehr Daten zu füttern, sondern ummit menschlicher Intelligenz unser Gesellschaftsmodell zu verteidigen und zu entwickeln. Und dazu die KI herzlich einzuladen – heißt, sie nach eigenen Maßstäben zu gestalten.
Der nächste Beitrag über Möglichkeiten der Verwirklichung von radikalen Zukunftsvisionen erscheint nächste Woche. Bisher nachlesbar sind die Beiträge über Moonshots als Innovationsmethode, Digitalisieren auf humane Art, Besonderheiten zukunftsforscherischer Unternehmen und New Work.
Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth | KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement | Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insb. Strategisches Marketing & Innovationsmanagement am FOM Hochschulzentrum Köln | 01.08.2019
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