Wirtschaft vordenken: Buzzwords der ökonomischen Zukunftsdebatte – Teil 2: Führung  

Corporate Foresight ist als Instrument der Zukunftsvorsorge seit Jahrzehnten etabliert, effizient und nützlich. In dieser Serie über ökonomische Zukunftsforschung nehmen wir aktuelle Entwicklungen ins Visier, unter anderem die Bewertung und Einordnung der sogenannten „Moonshot-Methode“, „New Leadership“ in modernen Unternehmen, Digitalisierung auf humane Art und was mit künstlicher Intelligenz auf dem Spiel steht.

Was machen und wie führen zukunftsforscherisch aufgestellte Unternehmen (anders)? 

Foto: FOM/Tim Stender

Unternehmen mit trendsetzendem Anspruch operieren in einer Denkungsart, die die Zukunft vorwegnimmt. Beispiel Leadership: Auf dem heutigen digital-technologischen Stand ist individuelle Führung im Gegensatz zu früher scheinbar nicht mehr nötig. Denn Digitalisierung steht für einen Wandel im Verständnis von Lenkung und Steuerung, die über die einzelne Akteurin und den einzelnen Akteur weit hinausgehen muss: räumlich (globale Ökonomie) und zeitlich (langfristig). In zukunftsforscherischen Unternehmen trägt die Führung penibel dafür Sorge, dass die dafür erforderlichen technologischen Instrumente auch genutzt werden. Sie justiert das organisationale „Immunsystem“ – der Rest obliegt jedem zum großen Teil selbst. (Dass in diesem Unternehmensleitbild europäisch-hierarchisch sozialisierte Mitarbeitende nicht vorkommen, die gewohnt sind, individuell geführt, Schritt für Schritt angeleitet zu werden und dies auch einfordern, muss nicht betont werden – eine bislang für Europa ungelöste Herausforderung.)

Typische Hilfsmittel für diese neue Art von Führung via Digitalisierung:

  • Algorithmen. Die Nutzung beschleunigender Technologien erhöht das Tempo der Organisation. Die Maßgabe lautet, ein „Zero Latency Enterprise“ zu schaffen: ein Unternehmen ohne Latenz, also Wartezeiten, indem die Zeit zwischen Idee, interner Akzeptanz und Implementierung praktisch verschwindet. Machine Learning, Deep Learning (zum Beispiel IBMs „Watson“), Big Data-Tools, Anreizsysteme mit Gamification-Elementen etc.: Zukunftsforscherische Unternehmen sind Wirtschaftsorganisationen, die dank Technologie zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage sind, die Nachfrage zu prüfen, bevor das Produkt entwickelt wird. Genau das übernehmen Algorithmen.
  • Dashboards. Das Unternehmen organisiert maximale Datentransparenz in Echtzeit, die unabdingbare Basis organisationaler Führung. Gemessen wird alles, was messbar ist: Gesamtzahl der Kunden, Kunden pro Stunde/Tag/Woche, neue Kunden pro Stunde/Tag/Woche, prozentuales Verhältnis der Alt- und Neu-Kunden pro Stunde/Tag/Woche, alles je Produkt oder Dienstleistung, alles in Bezug auf Umsatz und andere Kennzahlen. Und all dies gilt es zu optimieren. Dazu dienen Dashboards: Interne Daten-Hubs, über die jede und jeder Mitarbeitende jederzeit seine Daten abrufen kann. Das Ziel dieser maximalen Datentransparenz heißt Skalierung und meint die stetige Größenänderung der jeweils betrachteten Dimension nach oben.
  • Geeks im Aufwind. Wer führt? Nicht mehr die „HiPPO“, also die Highest Paid Person‘s Opinion, zählt, sondern die „Geeks“, die Datenwissenschaftler. Hinter dem Label Leadership 4.0 verbirgt sich ein Wandel des Führungsverständnisses, das – neben einem anderen Führungsfokus – auch andere Expertengruppen in Führung bringt als bisher. Geeks führen nicht mehr Menschen, sondern Relationen zwischen individueller Performance und Moonshot. Kennzahlen oder quantitative Zielvereinbarungen sind dabei nur ein Aspekt unter vielen, und manchmal der uninteressantere. Trägt nämlich eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter zum Moonshot auf eine bislang unbekannte, innovative und effektive Weise bei, können völlig neuartige Kriterien zur Mitarbeitendenbewertung definiert und herangezogen werden. Das machen Geeks, andauernd.
  • OIE statt Trends. Trendforschung nach traditionellem Muster verfährt prognostisch. Basis ist das Konzept „schwacher Signale“ von Harry Igor Ansoff aus den 1970er Jahren: Das Unternehmen versucht, neue Entwicklungen im Geschäftsfeld zu „monitoren“ oder zu „scannen“ und anschließend auf ihre Nutzbarkeit hin zu bewerten (Umfeldanalysen wie PEST, SWOT etc.). Es sammelt also Signale, die marktrelevant sein könnten, wenn auch in der Gegenwart nur schwach wahrnehmbar – nach dem Motto: Be prepared. Für Organisationen, die sich in komplexen globalen Umfeldern und damit im Dauerwandel befinden, ist dieses Konzept unzureichend: Ökonomisch „disruptive“ Konkurrenz kommt häufig aus einer Ebene, die man gar nicht im Blick hat – zumeist weit außerhalb des eigenen Geschäftsfeldes. An die Stelle des Umfeld-Monitorings treten deshalb „Orthogonal Information Effects“, kurz OIE. Zukunftsforscherische Unternehmen sammeln keine Trends (vielmehr setzen sie welche), sondern OIE: Sie achten auf den Wert scheinbar peripherer Daten. Die Erfahrung lehrt, neue Entwicklungen nicht nur im eigenen Markt zu beobachten, sondern vor allem an den Rändern.

Diese Instrumente sind in Grenzgebieten der BWL angesiedelt und im Mindset der strategischen Planung kaum verständlich. Aber bereits heute ist sichtbar, dass die Anzahl von Unternehmen, die sich zukunftsforscherisch aufstellen und entsprechend anders führen (auch wenn sich individuelle Führung dadurch nicht komplett erledigt), weltweit wächst. Was die Urteilskompetenz für solche Instrumente und Abwägungen betrifft, also präzise auf die eigene Firma abgestimmte Bewertungsschemata und Aufmerksamkeitspunkte, sind uns Unternehmen in anderen Regionen teilweise um Jahrzehnte voraus. Diese Art der Organisationsentwicklung geht über eine KPI-Jonglage weit hinaus und wird die Debatte der nächsten Jahre prägen.

Der nächste Beitrag darüber, wie die digitale Transformation sozialgerecht und human gelingen kann, erscheint nächste Woche. In dieser Reihe nachlesbar ist bislang bereits der Beitrag über Moonshots als Innovationsmethode.

Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth | KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement | Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insb. Strategisches Marketing & Innovationsmanagement am FOM Hochschulzentrum Köln | 02.07.2019