Bringen uns Smartphones & TV um den Schlaf? – Interview mit ersten Ergebnissen aus Projekt von Fraunhofer ISI und FOM  

Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI forscht Prof. Dr. habil. Thomas Kantermann vom iap Institut für Arbeit & Personal der FOM Hochschule seit dem 01.11.2021 im Projekt „Circadiane Rhythmen und Technologie – Desynchronisation im Alltag (CIRCADIA)“. Wir berichteten zum Start.

Herr Professor Kantermann, wie weit hat sich unser Alltag bereits von unseren angeborenen inneren Uhren – dem sogenannten zirkadianen Rhythmus – entfernt?

Prof. Dr. habil. Thomas Kantermann:Wir nutzen zunehmend künstliche, technische Geräte, die es erlauben, unsere inneren Uhren zu beeinflussen. Entscheidend ist hierbei vor allem die Uhrzeit, zu der wir diese Geräte nutzen. Unsere inneren Uhren sind maßgeblich daran beteiligt, dass wir tagsüber wach sind und nachts schlafen. Der Wechsel von Schlafen und Wachsein ist natürlicherweise mit dem Sonnenaufgang und -untergang synchronisiert. Aufwachen und Einschlafen müssen hierbei nicht zeitgleich damit zusammenfallen, aber die Sonne koordiniert diese Vorgänge auf körperlicher Ebene über die innere Uhr.

Die Signale zur Synchronisation erhält die innere Uhr über die Augen in Form von Licht. Unsere Augen, die wir im Alltag vor allem mit dem Vorgang des Sehens verbinden, haben ihren Ursprung in Sinneszellen, die da waren, um einem Organismus dabei zu helfen vorherzusagen, ob Tag oder Nacht ist. Im Laufe der Evolution haben sich daraus erst die Augen entwickelt, die wir heute auch zum Sehen nutzen. Die primäre Funktion war allerdings die Verarbeitung von Lichtinformation der Umwelt zur Synchronisation zirkadianer Rhythmen. Die Sehinformation ist an die bewusste Wahrnehmung gekoppelt, wir sehen, ob es hell oder dunkel ist. Diese Sehinformation dient jedoch nicht der Synchronisation der inneren Uhr, denn diese verläuft wiederum ohne bewusste Wahrnehmung. Dies bedeutet, dass wir Menschen keinen Sinn dafür haben, ob unsere innere Uhr „gut“ gestellt ist oder nicht.

Wofür wir Sinne haben, ist ein Teil der Prozesse, die durch die innere Uhr geregelt werden. Prominent ist hierbei der Wechsel von Wachsein und Schlafen zu nennen. Wir spüren es, wenn wir müde sind. Und an dieser Stelle kommt die Technik rein, die uns befähigt, das Gefühl von Müdigkeit zu überschreiben. Es gibt Menschen, die müde sind und wissen, dass sie schlafen sollten und es am Folgetag bereuen werden, zu diesem Zeitpunkt nicht schlafen gegangen zu sein. Dies ist eine – bewusste – Ignoranz gegenüber einem uralten biologischen Programm. Laut unseren Daten zeigen dieses Verhalten circa 39 % der Menschen in unserer repräsentativen Stichprobe an 2000 Personen ab 18 Jahren in Deutschland. An der Spitze der Gründe für diese Bettzeitprokrastination steht der Fernseher, gefolgt vom Internet. Die dazu nötigen künstlichen Geräte sind Lichtquellen – darauf reagieren innere Uhren – und Inhalte, die uns wachhalten. Unser Alltag ist geprägt von der Nutzung von Technik zur Kommunikation und zum Entertainment. Diese Nutzung hat seit Beginn der Covid-19-Pandemie zugenommen. Einflussreich für unsere inneren Uhren ist besonders der Gebrauch in den Abend- und Nachtstunden, der eben laut unseren Erhebungen 39 % der Menschen künstlich von ihren inneren Uhren entkoppelt, wodurch sie zum Teil deutlich zu wenig Schlaf bekommen.

Lässt diese Entwicklung negative Folgen für die Gesundheit befürchten?

Prof. Kantermann:Ja. Störungen der inneren Uhr können eine ganze Reihe an Störungen der Gesundheit zur Folge haben. Diese umfassen Störungen von Schlaf, Stoffwechsel, Herz-Kreislaufsystem und der Gemütsverfassung bis – in extremen Fällen wie der Schichtarbeit – zur Möglichkeit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Krebserkrankungen. Es gibt nicht die Störung der Gesundheit, die exklusiv durch eine Störung der inneren Uhr bedingt ist. Es ist vielmehr so, dass übliche „Volkskrankheiten“ mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auftreten, wenn die innere Uhr herausgefordert ist. Vor allem dann, wenn eine Herausforderung lange anhält. Das bedeutet, dass eine einzelne Nachtschicht oder ein durchgemachtes Wochenende für sich nicht das Problem darstellen. Wenn aber die innere Uhr wiederholt im Alltag herausgefordert wird, dann können deutliche Folgen für die Gesundheit auftreten. Wir müssen verstehen, dass die Gesundheitsprobleme, über die wir in diesem Kontext reden, alle Menschen betreffen. Entweder unmittelbar als Primärbetroffene oder mittelbar als Sekundärbetroffene, für die wir als kollektive Gesellschaft im Rahmen steigender Gesundheitskosten und Sozialleistungen aufkommen.

Welche Primärbetroffenen sind laut Ihren Untersuchungen besonders gefährdet?

Prof. Kantermann: Menschen unterscheiden sich darin, inwieweit ihre inneren Uhren durch Technik – vor allem im Kontext von Lichtexposition am Abend und in der Nacht – gestört werden. Aktuell läuft auch hierzu Forschung in unterschiedlichen Laboren, um über diese Unterschiede mehr zu erfahren. Grundsätzlich empfiehlt sich für Menschen, die bereits Störungen der Gesundheit, egal welcher Art, aufweisen, auf Folgendes zu achten: sich tagsüber viel dem Tageslicht auszusetzen und dafür zu sorgen, dass ihre Nächte dunkel sind. Als besonders gefährdet sehe ich Menschen an, die dafür nicht selbstständig sorgen können, wie beispielsweise Kinder, Senioren mit Pflegebedarf und generell all diejenigen, die nicht eigenständig ihre Lichtexposition gestalten können, beispielsweise weil sie nachts arbeiten. Hier kommen oftmals zwei Faktoren zusammen: zum einen zu viel Licht und entsprechende Wachheit am Abend oder in der Nacht. Zum anderen ein zu frühes Ende des Schlafes am Morgen. Stichwort ist hier der Wecker, weil Schule oder Arbeit oftmals zu früh beginnen.

Herzlichen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Professor Kantermann!

Eine Fortsetzung dieses Interviews kann im Januar 2024 hier im Wissenschaftsblog nachgelesen werden.

Professor Kantermann, hat Biologie und Psychologie an der Universität Bielefeld studiert, an der Ludwig-Maximilians-Universität München promovierte er im Fach Biologie und habilitierte sich ebendort im Fach Medizinische Psychologie. Seit 2018 ist er hauptamtlicher Hochschullehrer für das Fach Gesundheitspsychologie an der FOM. Seine Publikationen sind u. a. hier aufgelistet.

Erhebung  

Im November 2022 hat das Forschungsteam eine repräsentative Befragung unter 2000 Personen ab 18 Jahren in Deutschland durchgeführt, um mehr über Alltag und Tagesstrukturen der deutschen Bevölkerung im Zusammenhang mit der Nutzung verschiedener Bildschirmmedien und ihrem Schlafverhalten herauszufinden. Außerdem wollten sie Veränderungen seit Beginn der Covid-19-Pandemie aufdecken. Final waren 1922 Datensätze (976 Frauen, 935 Männer, 11 nicht-binäre Personen, im Alter von 18-85 Jahren) für Analysen geeignet. Von den Befragten waren 59,3 % der Personen erwerbstätig, 3,6 % erwerbslos (arbeitssuchend) und 36,1 % nicht erwerbstätig (z. B. in Rente, Schülerinnen/Schüler, Studierende ohne Nebenerwerbstätigkeit). Die meisten Teilnehmenden waren in Vollzeit beschäftigt (34,6 %) oder in Rente ohne Nebentätigkeit (27,7 %). 246 Personen waren teilzeitbeschäftigt (12,7 %).

Policy Brief  

Das Forschungsteam hat einen Policy Brief mit dem Titel „Der circadiane Rhythmus im Alltag. Biologie im Konflikt mit Techniknutzung“ veröffentlicht, um auf Basis der empirischen Fakten aus dem Projekt CIRCADIA den Ist-Zustand, seine Auswertung der Ergebnisse sowie Handlungsempfehlungen zu bündeln. Hier geht es zum kostenfreien Download des 2. Policy Briefs aus dem Projekt.

Unter dem Titel „Beeinflussen Bildschirme unseren Biorhythmus?“ haben wir bereits im Februar 2023 eine News-Meldung zum ersten Policy Brief aus dem Projekt CIRCADIA auf der iap-Website veröffentlicht. Dieser trägt den Titel „Der circadiane Rhythmus. Essenziell für unser Überleben, häufig vernachlässigt“, der dort auch verlinkt ist. Ein dritter Policy Brief soll nach Projektabschluss im Januar 2024 erscheinen. Darauf werden wir wieder hier im Blog und auf der Instituts-Website hinweisen. 

Zum heute parallel veröffentlichten Blogbeitrag des Lead-Partners Fraunhofer ISI mit dem Titel „Menschen brauchen helle Tage und dunkle Nächte.“ geht es hier

Das diesem Beitrag zugrundeliegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „BMBF Insight – Interdisziplinäre Perspektiven des gesellschaftlichen und technologischen Wandels“ unter dem Förderkennzeichen 16INS106B gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. 

Das Interview führte Yasmin Lindner-Dehghan Manchadi M.A. | Referentin Forschungskommunikation der FOM Hochschule | 22.11.2023