„In der digitalen Welt der Daten muss auch die Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden“ – Analyse & Lehre von Kausalbeziehungen und ein Nobelpreis  

Im Dezember 2021 wurde der als „Nobelpreis“ geläufige Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften unter anderem für methodische Beiträge zur Analyse von Kausalbeziehungen verliehen. Die Lehre von Kausalbeziehungen ist das Fokusthema, zu dem Prof. Dr. Bianca Krol und Prof. Dr. Karsten Lübke am ifes Institut für Empirie & Statistik der FOM Hochschule gemeinsam mit Prof. Dr. habil. Sandra Sülzenbrück vom iwp Institut für Wirtschaftspsychologie der FOM forschen.

Welche Schnittmengen und welche unterschiedlichen Ansätze hat Ihre im Vergleich zur Forschung der Preisträger Prof. Dr. Joshua Angrist und Prof. Dr. Guido W. Imbens?

Prof. Dr. Karsten Lübke:Angrists und Imbens‘ methodische Entwicklung bezieht sich auf die Schätzung kausaler Effekte, also die Schätzung der Auswirkungen von Handlungen auf Basis von gründlich untersuchten Daten –  beispielsweise am Arbeitsmarkt. Sie betrachten die theoretischen Grundlagen des Zusammenhangs und der Aussagekraft von Daten bei der Schätzung von kausalen Effekten. Unsere Arbeiten beziehen sich darauf, wie Menschen kausale Effekte, kausale Zusammenhänge einschätzen. Dabei geht es unter anderem darum, wie das Deuten von Informationen durch Vorurteile und stereotype Verzerrungen beeinflusst wird. Menschen neigen dazu, Informationen so zu deuten, dass sie ihren Erwartungen entsprechen. In der Kognitionspsychologie sprechen wir dabei von „Confirmation Bias“, einem Bestätigungsfehler.

Haben Sie für uns ein Beispiel für einen solchen Bestätigungsfehler?

Prof. Dr. habil. Sandra Sülzenbrück: Wir streben als Menschen danach, unsere Annahmen über die Welt möglichst bestätigt zu bekommen. So suchen wir uns aus einer Fülle von oft widersprüchlichen und mehrdeutigen Informationen diejenigen aus, die gut zu unseren Annahmen über bestimmte Personen, Personengruppen, Wirkzusammenhänge und Interpretationen von Situationen passen. Dies tun wir unter anderem, um die Komplexität in unserem Leben zu reduzieren und trotz der Fülle von Informationen immer noch handlungsfähig zu bleiben. Letztendlich tun wir dies auch, um unseren Selbstwert zu schützen und den unangenehmen Spannungszustand zu reduzieren, der mit der Existenz widersprüchlicher Informationen verbunden sein kann. Wenn man von einer Person einen negativen ersten Eindruck hat, dann neigt man dazu, eine vielleicht nett gemeinte Geste wie zum Beispiel das Türaufhalten als negativ zu interpretieren.

Prof. Dr. Bianca Krol: Sehr häufig sieht man diese Bestätigungsfehler aktuell auch in der Diskussion um COVID-19: Wenn man beispielsweise die Entscheidung getroffen hat, sich nicht impfen zu lassen, dann sucht man in der Fülle von wissenschaftlich und pseudowissenschaftlich veröffentlichten Daten nach Argumenten dafür, diese Entscheidung nicht infrage stellen zu müssen. Dies ist einer der Gründe dafür, warum es so schwierig ist, Menschen mit stark ausgeprägten Positionen von der Gegenposition zu überzeugen.

Sülzenbrück: Letztlich laufen wir alle mit mehr oder weniger großen „Scheuklappen“ durch die Welt und ignorieren oder vergessen schnell Informationen, die nicht zu unseren Annahmen passen. Der vor uns im Berufsverkehr „schleichende“ Autofahrer ist in unserer Vorstellung vermutlich der ältere Herr mit Hut. Wenn wir beim Überholen feststellen, dass tatsächlich ein älterer Herr am Steuer ist, merken wir uns das besonders gut. Stellen wir aber fest, dass der „Schleicher“ zum Beispiel ein junger Mann mit Handy am Ohr ist, vergessen wir dies sehr schnell wieder, da es nicht zu unserem Vorurteil passt. 

Confirmation Bias heißt, dass man die Fakten nicht objektiv betrachtet, sondern nur das sieht, was den eigenen Überzeugungen entspricht | Grafik: Vgl. Farnam Street Media Inc.: Confirmation Bias And the Power of Disconfirming Evidence

Aktuelle Forschungsergebnisse zu diesem Themenfeld haben wir im Rahmen eines Vortrags im November auf einem internationalen Kongress anderen Forschenden unserer Fachrichtung vorgestellt.

… beim Kongress mit dem Titel „Causal Data Science Meeting 2021“, bei dem auch Professor Imbens einen Vortrag hielt. Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften begründet die Verleihung des Nobelpreises an den Forscher der Stanford University und seinen Kollegen vomMassachusetts Institute of Technology damit, dass deren Forschung „neue Erkenntnisse über den Arbeitsmarkt geliefert und gezeigt [hat], welche Schlussfolgerungen über Ursache und Wirkung aus natürlichen Experimenten gezogen werden können“*. – Um welche besonderen Erkenntnisse handelt es sich dabei? 

Krol: Guido Imbens und Joshua Angrist erhalten den Preis für Ihre methodischen Beiträge zur Kausalen Inferenz aus Beobachtungsdaten. Dabei geht es um Fragen, wie sich zum Beispiel ein Mindestlohn oder Einwanderung auf den Arbeitsmarkt auswirken.

Was macht das Verständnis kausaler Zusammenhänge für Sie besonders spannend?

Lübke: Wir leben in einer Welt voller Daten. Und es reicht nicht aus, dass sie da sind. Sie müssen auch in richtige Handlungen umgewandelt werden! Und dazu bedarf es mehr als die reine Berechnung von Kennzahlen und ähnlichem. In der digitalen Welt der Daten muss beispielsweise auch die Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden, um die richtigen Schlüsse aus ihnen ziehen zu können.

Wenn die Erkenntnisse von Professor Imbens in Stanford, Professor Angrist am MIT und Professor Card, der an der University of California arbeitet, „Antworten auf bisher ungeklärte Fragen über den Arbeitsmarkt geliefert“* haben – welches Gebiet bereichert ihre Forschungsarbeit?

Lübke: Für uns als Forschende und Lehrende stellt sich natürlich insbesondere die Frage, wie die neuen Erkenntnisse und Möglichkeiten in die Praxis umgesetzt werden können. In einer durch Digitalisierung und Daten geprägten Welt ist Datenkompetenz zentral wichtig und unsere Forschung adressiert die bestmögliche Vermittlung davon.

Wie gehen Sie dabei davor?

Krol: Das machen wir zum einen bei uns in der Lehre. Wir befähigen die Studierenden fachübergreifend in allen Hochschulbereichen dazu, Daten im Hinblick auf eine bestimmte Problemstellung zu strukturieren, um Informationen daraus gewinnen zu können. Um zu zeigen, welchen Einfluss die Veränderung einzelner Parameter auf ein Ergebnis hat und welche Relevanz die zugrundeliegenden Annahmen und Voraussetzungen für die Interpretation und den Geltungsbereich eines Ergebnisses haben, setzen wir unter anderem computergestützte Simulationen ein.

Lübke: Das ist effektiver und deutlich attraktiver und eingängiger als klassische statistische Formellehre. Wie die kausale Schlussfolgerung in die Data-Literacy-Ausbildung an Hochschulen integriert werden kann, habe ich gemeinsam mit Fachkollegen im Rahmen eines Journalbeitrags mit dem Titel „Why We Should Teach Causal Inference“ beschrieben.

Wie wir hörten, hat das Paper in Ihrer Fach-Community für so viel Aufmerksamkeit gesorgt, dass es in die renommierte „Most Read Collection“ des Journaljahrgangs aufgenommen wurde. Herzlichen Glückwunsch dazu! Neben Ihrem Engagement für die Datenkompetenz FOM Studierender arbeiten Sie ja aktuell auch an einem Vermittlungsformat, das der Gesellschaft allgemein zugänglich ist.

Lübke: Vielen Dank! Genau, wir haben gerade auch gemeinsam mit Dr. Julia Rohrer von der Universität Leipzig einen „Einstiegskurs Kausale Inferenz“ entwickelt. Das BMBF hat dieses Projekt gefördert und der Kurs soll auf dem KI-Campus zur Verfügung gestellt werden, der allgemein zugänglich ist. Viele der Fehlinterpretationen zum Beispiel auch von Coronadaten zeigen, wie wichtig die Vermittlung von Datenkompetenz ist. Und es ist gut, wenn möglichst viele Menschen dazu befähigt werden, Daten adäquat zu beurteilen. 

Noch eine letzte Frage zur Vorgehensweise Ihrer Fachkollegen bei der Erforschung: Können Sie uns erläutern, um was für „natürliche“ Experimente es sich bei Angrist und Imbens handelt?

Lübke: In der Ökonomie – und auch sonst – sind häufig keine „klassischen“ randomisierten kontrollierten Experimente möglich. Um trotzdem kausale Schlussfolgerungen zu ermöglichen, haben sich Imbens und Angrist zusammen mit anderen entsprechend „natürliche“ zufällige Zuordnungen vorgenommen, die ihnen geeignet erschienen, um Experimente nachzubilden. Das machten sie, indem sie Daten, die es gab, in einen Zusammenhang gebracht haben. Beispielsweise haben sie einen Zusammenhang zwischen Ausbildung und Einkommen analysiert, indem sie zusätzlich die Daten der Geburtsquartale hinzugenommen und verglichen haben. Oder sie haben Mindestlohneffekte durch verschiedene Bundesstaaten analysiert. Denn nur der Vergleich der Daten vor und nach der Erhöhung des Mindestlohns in einem Bundesstaat reicht für kausale Schlussfolgerungen nicht aus und sie mussten weitere Daten finden, die die Aussage über einen Effekt ermöglichten. Diese Variable musste aus bereits bestehenden Daten genommen werden, also aus bereits „natürlich“ vorhandenen Daten, die wie ein Experiment wirken. Dabei spricht man von „natürlichen“ Experimenten. Wer an der genauen Vorgehensweise der Fachkollegen interessiert ist, kann das in einem Dokument der Schwedischen Akademie der Wissenschaften auch nochmals detailliert nachlesen. Ganz wichtig ist grundsätzlich: Man muss mögliche Zusammenhänge selbst erarbeiten. Die Technik, die man zur Verfügung hat, also die Methode, ersetzt nicht das Denken. Daten, Methodik und Denken sind keine Substitute, sondern sie müssen sich ergänzen.

Herzlichen Dank für die Einblicke und viel Erfolg weiterhin in Forschung und Lehre! 

 

Der Titel des genannten Vortrags von Professorin Krol, Professor Lübke und Professorin Sülzenbrück und lautet: „Drawing (causal) conclusions from data – some evidence”. Weitere Hintergründe zum Vortrag können dem Artikel „FOM Beitrag beim ‚Causal Data Science Meeting 2021‘ – Welche Schlüsse lassen sich aus Daten ziehen?“ entnommen werden.

Das erwähnte Projekt trägt den vollständigen Titel „Was, wie, warum? Einstiegskurs Kausale Inferenz (WWWEKI)“ und wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16DHBQP040 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. 

Das Interview führte Yasmin Lindner-Dehghan Manchadi M.A. | Referentin Forschungskommunikation der FOM Hochschule | 21.03.2022 

*) Quelle: Tagesschau