„Eine Theorie der Gesundheitspolitik gibt es nicht. Das ist ein wissenschaftliches Manko.“ Professor Boroch im Interview zu seinem Buch „Dimensionen allgemeiner Gesundheitspolitik“
Prof. Dr. Wilfried Boroch lehrt Gesundheits- und Sozialmanagement an der FOM Hochschule in Essen. Kürzlich erschien sein Buch „Dimensionen allgemeiner Gesundheitspolitik„. Eine modifizierte Anordnung nach Kriterien der engen, weiten und praxisbezogenen Anwendung“. Es ist Band 11 der ifgs Schriftenreihe der FOM, herausgegeben von den Direktoren des Instituts für Gesundheit & Soziales (ifgs) der FOM, Prof. Dr. David Matusiewicz und Prof. Dr. Manfred Cassens. Wir waren neugierig und trafen ihn zum Interview.

Professor Boroch, Sie schreiben zur allgemeinen Gesundheitspolitik. Was genau meinen Sie mit dem Begriff „allgemein“ in diesem Zusammenhang?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Im Prinzip handelt es sich hier um einen Versuch, die bestehenden unterschiedlichen Formate der Gesundheitspolitik – ich spreche im Beitrag von Dimensionen der Gesundheitspolitik – in eine Struktur zu überführen.
Und was verstehen Sie unter unterschiedlichen Formaten konkret?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Na ja, zum einen kann man Gesundheitspolitik nach konzeptionellen Ansätzen beziehungsweise unterschiedlichen Denkkategorien differenzieren und zum anderen lässt sich eine Trennung zwischen der konzeptionellen und einer eher der Praxis zugewandten Gesundheitspolitik darlegen.
Praxis und Theorie, das ist nachvollziehbar. Aber konzeptionell? Gibt es also unterschiedliche Theorien der Gesundheitspolitik?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Nein, eine Theorie der Gesundheitspolitik gibt es eben nicht. Das ist auch ein wissenschaftliches Manko. Die aktuelle Gesundheitspolitik dreht sich eher um zwei konzeptionelle Erklärungsansätze, die sich inhaltlich grundsätzlich divergierend gegenüberstehen. Man spricht von weiter und enger oder seltener auch von expliziter und impliziter Gesundheitspolitik. Bei der engen Gesundheitspolitik steht der Krankheitsbegriff im Vordergrund. Der Ansatz ist eher funktional, indem er auf die Funktionsfähigkeit des solidarischen Gesundheitssystems abzielt. Bei der weiten Gesundheitspolitik ist die Gesundheit selbst oberstes Handlungsziel. Die Politikgestaltung orientiert sich an Gesundheitsförderung und Prävention und ist eher interventionistisch ausgeprägt.
Und diese Ansätze erklären Sie?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Ja, beide Sichtweisen werden im Beitrag mit Schwerpunkt auf die ordnungspolitische Perspektive erklärt und strukturiert. Und es wird abschließend die Gesundheitspolitik als Interessenpolitik in der Praxis erläutert. Insgesamt werden diese drei Dimensionen dann unter dem Dach einer allgemeinen Gesundheitspolitik zusammengefasst.
Worin besteht der wissenschaftliche Nutzen?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Wissenschaftlich ist sicherlich die im ifgs-Band vorgenommene Anordnung der Gesundheitspolitik nach Zielen, Zielbeziehungen und deren Verträglichkeit untereinander hervorzuheben. Das ist ein kleiner Beitrag zur Theorie einer Gesundheitspolitik. Aus meiner langjährigen praktischen Erfahrung mit Gesundheitspolitik fände ich es aber persönlich wichtiger, wenn meine Publikation an der einen oder anderen Stelle helfen würde, die gesundheitspolitische Diskussion ein wenig stärker rational zu gestalten und zu systematisieren.
Wie meinen Sie das?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Die Beteiligten im Gesundheitswesen sprechen häufig aneinander vorbei. Das hat nicht nur mit ihren unterschiedlichen Interessen, die sie vertreten, zu tun. Vielmehr hält jeder dabei an seiner eigenen Idee zur Gesundheitspolitik fest, ohne genügend den jeweils anderen Denkansatz zu reflektieren. Das führt dann zu Widersprüchen, die sich ständig selbst perpetuieren. Schlimm wird es, wenn einzelne Gruppen daraus irgendwelche moralischen Überlegenheiten für ihre Perspektive ableiten. Dann ist die gesundheitspolitische Diskussion fruchtlos und rein ideologisch.
Dann sprechen Sie in ihrer Publikation eher von einem Kommunikationsansatz?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Auch – mein Wunsch und Ziel wäre es, dass sich die beteiligten Akteure ihrer unterschiedlichen Denkansätze bewusster werden und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für eine mehr inhaltlich orientierte und vor allem vorurteilsfreie Diskussion nutzen würden. Wenn meine Publikation dazu beitragen könnte, wäre ich mehr als zufrieden – wohl bewusst, dass es sich angesichts der immensen Interessengegensätze im Gesundheitswesen um einen kaum zu realisierenden Wunsch handelt.
Welche Perspektiven für die Gesundheitspolitik sehen Sie?
Prof. Dr. Wilfried Boroch: Nun, zum einen wird vor allem eine Theorie der Gesundheitspolitik gebraucht. Aufgrund der unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachbereiche, die in eine solche Theorie einfließen, muss es sich um eine synthetische Theorie handeln. Darüber hinaus benötigen wir mehr Evidenzbasierung bei gesundheitspolitischen Entscheidungen. Schließlich sollte künftig verstärkt beobachtet werden, wie die Gesundheitspolitik durch Netzwerkkommunikation beeinflusst wird. Das gilt natürlich für viele andere Politikbereiche genauso. Da es sich aber bei Gesundheit und Krankheit um sehr persönliche Themen handelt, lässt sich Gesundheitspolitik besonders stark emotionalisieren.
Vielen Dank für diese Einblicke, Professor Boroch!
Das Interview führte Yasmin Lindner-Dehghan Manchadi, Referentin Forschungskommunikation, 25.07.2018
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