„Wir präsentieren die schonungslose Wahrheit über Lean Management“: Prof. Dr. Dahm im Interview  

Prof. Dr. Markus Dahm

22.08.2017 – In ihrem 2014 erschienen Fachbuch Operational Excellence mittels Transformation Management werfen Prof. Dr. Markus Dahm und Aaron Brückner einen Blick auf Lean Management, Six Sigma und Lean (Six) Sigma. Für ihr aktuelles Werk Lean Management im Unternehmensalltag. Praxisbeispiele zur Inspiration und Reflexion haben sie sich auf einen Ansatz konzentriert. Warum sie den neuen Fokus gewählt haben und wo die Besonderheiten des in der FOM-Edition erschienenen Buches liegen, erläutert Prof. Dr. Markus Dahm im Interview. 

Zunächst für die Laien unter uns: Wie unterscheiden sich Lean Management, Six Sigma und Lean (Six) Sigma? 

Prof. Dr. Dahm: Hauptunterscheidungskriterium ist die jeweilige Zielsetzung, ein zweites der zeitliche und finanzielle Aufwand. Bei Lean Management geht es darum, die Produktivität eines Unternehmens zu steigern. Die Durchlaufzeit z.B. bei der Erstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung soll reduziert werden, indem unnötige Wartezeiten, Transportzeiten oder auch Fehler beseitigt werden. Dazu braucht man im Grunde genommen nur wenige Personen in der Organisation, die die entsprechenden Werkzeuge anwenden können. Sprich: Lean Management ist mit geringen Kosten verbunden und im Extremfall sieht man schon nach zwei bis drei Wochen Erfolge.

Ganz anders sieht es bei Six Sigma aus: Hier geht es in erster Linie darum, die Qualität zu steigern und Prozesse komplett fehlerfrei zu gestalten. Die entsprechenden Verbesserungsprozesse gehen in die Tiefe und dauern zumeist mehrere Monate. Darüber hinaus steht dahinter ein komplettes Ausbildungssystem. Viele Mitarbeiter müssen geschult werden und erhalten – je nach Aufgabenbereich und Zielsetzung – sogenannte Yellow, Green oder Black Belts. Der Aufwand ist also deutlich höher als bei Lean Management.

Lean (Six) Sigma ist eine Kombination beider Ansätze und zielt auf eine Steigerung sowohl von Qualität als auch von Produktivität. Zeitliche Vorteile ergeben sich dadurch zumeist allerdings nicht. Es werden klassische Six Sigma Prozesse angestoßen, die Lean Management Werkzeuge kommen ergänzend zum Einsatz. 

Warum konzentrieren Sie sich in Ihrem neuen Buch auf Lean Management? 

Prof. Dr. Dahm: Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Zum einen kommt Lean Management in der Praxis weitaus häufiger vor als Six Sigma. Vielleicht 10 Prozent der Unternehmen setzen auf Six Sigma, den Lean-Ansatz findet man bei rund 80 Prozent der Firmen. Zum anderen ist der Lean deutlich einfacher umzusetzen. Für Six Sigma muss man Daten analysieren und auswerten. Vielen Unternehmen liegen diese Daten überhaupt nicht vor. Das heißt: Sie können gar nichts mit Six Sigma anfangen, um Verbesserungsprojekte zu initiieren. 

Wie der Titel verrät, liegt der Fokus des neuen Buches zudem ganz klar auf der Praxis…

Prof. Dr. Dahm: Ganz genau. Das erste Buch ist deutlich theorielastiger ausgefallen, als wir das ursprünglich geplant hatten. Ein Leser kritisierte beispielsweise, dass nur 20 Prozent des Inhalts den Brückenschlag in die Praxis wagen. Zudem seien die aufgeführten Firmen wie die Bank of America einfach zu weit weg von seinem Arbeitsalltag. Das ist in dem neuen Buch ganz anders: Es besteht zu 80 Prozent aus Einblicken in die Praxis. Über unsere persönlichen Netzwerke haben wir Unternehmen angesprochen, die in Deutschland und Europa jeder kennt. Wir waren vor Ort, haben uns die Firmen angesehen und Interviews mit Vertreter*innen sämtlicher Hierarchie-Ebenen geführt – vom Meister über den Betriebsrat bis zum Geschäftsführer. Herausgekommen sind vier Fallstudien, die nach einem identischen Schema aufgebaut und dadurch sehr leserfreundlich sind. Jedes Beispiel wird zudem von einem Experten bewertet: Wie gut oder schlecht das Unternehmen Lean eingeführt, umgesetzt oder angepasst? Diese Art der Reflexion ist auf dem deutsch- und englischsprachigen Markt einzigartig.

Welche vier Unternehmen haben Sie sich angesehen?

Prof. Dr. Dahm: Lufthansa Technik, Philips Medical Systems, Raytheon Anschütz und Single Temperiertechnik. Jedes dieser Unternehmen verfolgt einen anderen Lean-Ansatz und befindet sich mit Blick auf die Umsetzung auf einem anderen Level. Während Single beispielweise erst seit zwei Jahren mit der Methode arbeitet, hat Lufthansa Technik bereits 13 Jahre Erfahrung.

Was können die Leser*innen aus diesem Blick in die Praxis mitnehmen?

Prof. Dr. Dahm: Sie können sich aus jeder Fallstudie Erfolgsfaktoren herausziehen und auf ihre eigene Praxis übertragen. Gleichzeitig können sie reflektieren, ob sie alles richtig gemacht haben oder bestimmte Dinge in Zukunft anders angehen wollen. Ein Learning ist beispielsweise, dass Gelingen von Lean Management von einer Gallionsfigur abhängt, die auf Vorstandsebene sitzt, den Prozess zu 100 Prozent unterstützt und die Mitarbeitenden mitzieht. Gleichzeitig ist wichtig, Lean mit eigener Kraft voranzutreiben. Wer über die Startphase hinaus auf externe Berater*innen setzt, wird den Ball zwar ins Rollen bringen, nicht aber am Rollen halten.

Zudem muss jedem klar sein, dass Lean Management eine Reise ist: Erst nach fünf bis sieben Jahren stellen sich handfeste Erfolge ein. Solange dauert es in der Regel, bis die Unternehmenskultur den Lean Ansatz verinnerlicht hat. Die gesamte Belegschaft kann und sollte offen über Fehler sprechen und gleichzeitig immer über Verbesserungen nachdenken. Den perfekten Prozess gibt es schließlich nicht, es besteht immer Optimierungspotenzial – egal, ob in der Industrie oder bei Dienstleistungen. Stellen sich dann die ersten Erfolge ein, müssen diese unbedingt kommuniziert werden. Nur, wenn die Mitarbeitenden sehen, dass sich etwas bewegt, sind sie bereit, den Ansatz weiter zu tragen.

Berichten die Unternehmen auch über Dinge, die nicht so gut gelaufen sind?

Prof. Dr. Dahm: Das ist sicherlich eine weitere Besonderheit des Buches: Es wird nichts geschönt, sondern ganz klar kommuniziert, was gut und was weniger gut gelaufen ist. Wir präsentieren die schonungslose Wahrheit über Lean Management. Ein Beispiel: Dr. Thomas Stüger – seines Zeichens Vorstand Technical Operations, Logistics & IT bei Lufthansa Technik – gibt zu, dass das Unternehmen zunächst zu viel Zeit in die Ausbildung der Mitarbeitenden gesteckt und sich zudem auf den Bereich Produktion konzentriert hat. Seine Botschaft: Lean Management muss flächendeckend eingeführt werden, damit es Erfolg hat. Also auch in HR, Controlling & Co. Und daher kann jeder, auch jemand, der seit 10 Jahren auf Lean setzt, bei der Lektüre etwas mitnehmen.

Ist es den Unternehmen leicht gefallen, Fehler zuzugeben? 

Prof. Dr. Dahm: Bei den vier Unternehmen, die im Buch aufgeführt sind, war das kein Problem. Ursprünglich waren aber weitere Praxisbeispiele geplant, aber diese Firmen wollten nur durch die rosarote Brille auf ihre Lean-Prozesse schauen. Deshalb sind sie nicht dabei, und unser Buch ist mit 200 Seiten dünner ausgefallen als ursprünglich geplant.