Herausforderungen auf dem Weg zur Industrie 4.0: „Virtualität ist das Organisationsmodell der Zukunft“  

08.08.2017 – Die Digitalisierung ist in aller Munde: Bis 2020 wollen rund 80 Prozent aller deutschen Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten digitalisiert haben. Prof. Dr.-Ing. Michael Schaffner hat mit Blick auf diesen Zeitplan Zweifel. Er geht davon aus, dass wir erst 2040 von einer Industrie 4.0 sprechen können. Seine Gründe erläutert der Experte des KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement der FOM Hochschule im Forschungsblog.

(Foto: svedoliver/Thinkstock)

Die Digitalisierung der horizontalen Wertschöpfungskette setzt auf integrierte Informations- und Warenflüsse vom Lieferanten über das eigene Unternehmen bis hin zum Kunden. Dabei werden in einem digitalen Eco-System alle unternehmensinternen Bereiche (z.B. Einkauf, Produktion, Logistik) sowie alle externen Wertschöpfungspartner miteinander verkettet und vorausschauend gesteuert. Soweit der Plan. Die Realität sieht häufig noch ganz anders aus. Dort gelingt es oft nicht einmal, eine Zulieferdokumentation in einer bestimmten Sprache und Formatierung zu erhalten…

Auch die Zahlen sind ernüchternd: Das Bundesministerium für Wirtschaft bemerkt beispielsweise, dass der deutsche Mittelstand deutlich hinter der Digitalisierung hinterherhinkt. Und Studien wie der McKinsey-Report 2015 kritisieren die Digitalisierungsstrategien der Unternehmen – denn 99 Prozent aller Informationen gingen heute verloren, bevor sie als digitalisierte Daten einen Entscheidungsträger erreichen. In der aktuellen Innovationsstudie von Acatech und BDI wird Deutschland international lediglich ein Mittelfeldplatz beim Digitalisierungsindikator attestiert. Auf Rang 17 rangiert Deutschland weit abgeschlagen – insbesondere hinter den skandinavischen Ländern, aber auch den USA, Großbritannien, Israel und der Schweiz. Ob und wann wir eine digitale Horizontal-Wertschöpfungskette bekommen werden, steht also noch in den Sternen, zumal auch noch nicht alle Datenstandards der digitalen Transformation geklärt sind.

Die größte Herausforderung auf dem Weg Richtung Industrie 4.0 sehe ich bei der Unternehmensführung. Eine Smart Factory wird erhebliche Anforderungen an das Führungspersonal stellen. Den Menschen muss Optimismus und Zukunftsorientierung gegeben werden. Mit klassisch zentralistischer Macht- oder Fach-Promotoren-Führung oder halbherzigen Partizipationsansätzen wird die Führungselite keine Mannschaft in ein Jahr 2040 führen können. Wer als Führungskraft voranschreitet und niemanden hinter sich hat, der promeniert nur auf dem Boulevard der Eitelkeiten – da stehen sich etablierte Firmen und Start-ups in nichts nach. Entscheidend wird zum Beispiel in digitalen Geschäftsmodellen die Beantwortung der Frage sein, wie viel Digitalisierung das Produkt, das Unternehmen, die Abteilung, der Prozess etc. überhaupt benötigt.

Eine weitere Herausforderung wird sein, dass die Akteure im Arbeitsprozess immer weniger greifbar sein werden. Virtualität ist das Organisationsmodell der Zukunft. Der Kollege „Roboter“ und die menschlichen Arbeitskolleg*Innen an entfernten Standorten oder im Home Office müssen anders gesteuert werden als ein pflichttreu um einen Konferenztisch herumsitzendes Präsenzteam. Und letztlich müssen Führungskräfte die komplexe Welt von Big Data verstehen – dazu gehören ein statistisches Verständnis von Data Analytics ebenso wie die Nutzbarmachung von vorhandenen, aber noch ungenutzten Daten (Dark Data). Erfolgreiche Führungskräfte zeichnen sich heute durch ihren Erfahrungsschatz aus, in komplexen Situationen gute Bauchentscheidungen zu treffen und diese – vor der Durchsetzung – noch einmal rational zu verifizieren. In einer Welt von morgen werden Führungskräfte aber statistisch-algorithmischen Entscheidungen, getroffen von KI-Systemen, vertrauen und/oder sie schnellstmöglich verifizieren müssen. Womit auch die Führung an sich in Frage gestellt wird, wenn ihr die Entscheidungshoheit und der Wissensvorsprung genommen werden. Flache Hierarchien und sich selbst organisierende Teams werden damit realistischer. Dies setzt gleichzeitig eine Akademisierung der Belegschaft voraus, denn konzeptionelles, assoziatives, holistisches Denken und Handeln wird immer wichtiger.

Mit Blick auf die Belegschaft tut sich auch eine weitere Herausforderung auf, denn die Digitalisierung bringt schließlich für Arbeitnehmende einige Veränderungen mit sich. Ein Beispiel: Durch Menschen erbrachte Erwerbsarbeit wird in Zukunft verstärkt durch kostengünstige Roboter und KI-Systeme ersetzt. Dies wird sich nicht mehr allein auf simple Routinearbeiten beschränken, sondern auch komplexere Tätigkeiten einschließen (Administration, Kreation, Entscheidungssituationen etc.). Schon heute treffen erste Robo-Chefs Entscheidungen (z.B. bei Hitachi in der Lagerlogistik). Eine OECD-Studie von 2016 geht weltweit von einem Wegfall von 10 Prozent aller Arbeitsplätze durch Digitalisierung aus. Nun sind aber Büros und Verwaltungen betroffen, da Fabriken schon weitgehend automatisiert wurden. In seiner Studie von 2016 prognostizierte das Weltwirtschaftsforum in Davos für die Industrieländer bis 2020 einen Wegfall von sieben Millionen Arbeitskräften mit „weißem Kragen“, denen nur zwei Millionen neue Stellen für High-Tech-Spezialisten gegenüberstehen.

Dies konterkariert optimistische Prognosen, die für Mitarbeitende interessantere Arbeiten und eine Entlastung von Routine versprechen. Doch es geht schon lange nicht mehr darum, sich nicht mehr bücken zu müssen und den Rücken zu schonen. Der Markt von Arbeitssuchenden ist voll von Menschen, die sich gerne wieder bücken würden. Vorbei ist auch die Zeit der „dummen“ Industrieroboter, die abgesichert hinter Schutzzäunen schwere Lasten buckeln. Künftig werden zunehmend Arbeitsplätze mit künstlich-intelligenten Roboter-Kollegen besetzt, die mit menschlichen Arbeitskolleg*innen vollständig und über alle Sinne interagieren. Fazit: Es ist noch einiges zu tun, bis wir in Deutschland wirklich von einer Industrie 4.0 sprechen können. Ich gehe ehrlich gesagt erst für das Jahr 2040 davon aus.

Prof. Dr.-Ing. Michael Schaffner, KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement