„Wenn jeder Mensch auf der Erde so leben würde wie wir in Deutschland, würden wir drei Planeten benötigen.“ Professorin O’Riordan im Interview  

Prof. Dr. Linda O’Riordan leitet das KompetenzCentrum für Corporate Social Responsibility (KCC) der FOM Hochschule. Hier befasst sie sich mit Trainings und Forschung im Themenbereich der nachhaltigen Unternehmensverantwortung. Die Verantwortung, die die Wirtschaft für die Gesellschaft hat, ist ihr ein Anliegen. Wir wollten mehr darüber wissen und trafen sie zum Interview.

Professorin O’Riordan, in Ihrem KompetenzCentrum forschen Sie zum Thema Corporate Responsibility. Worum geht es und warum ist das Thema relevant? 

Prof. Dr. Linda O’Riordan leitet das KompetenzCentrum für Corporate Social Responsibility (KCC) der FOM Hochschule (Foto: FOM)

Prof. Dr. Linda O’Riordan:Wenn jeder Mensch auf der Erde so leben würde wie wir in Deutschland, würden wir drei Planeten benötigen. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und der Ressourcenknappheit rücken Corporate Responsibility-Konzepte mehr und mehr in den Vordergrund. Ausgelöst durch die ernsten entwicklungspolitischen Herausforderungen, denen sich die Menschheit gegenübersieht, darunter Armut, Bildung, Gesundheit und Industrialisierung, werden nachhaltige Konzepte zur Schaffung von Wohlstand unter Berücksichtigung der Interessen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen entwickelt.

Mit nachhaltigen Lösungsansätzen können Unternehmen eine sehr wichtige Rolle als Katalysatorender Gesellschaft in Bezug auf Verantwortung für Gerechtigkeit, Fortschritt und Wohlbefinden spielen. Unternehmensentscheider können in der Praxis tagtäglich signifikant dazu beitragen, indem sie die kürzlich aktualisierten „SDGs 2030“, also die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung, adressieren. Die SDGs zielen auf die 5 P ab: People, Planet, Prosperity, Peace und Partnership. Kurz gesagt, die neuen SDGs umfassen wesentliche Verantwortungsthemen, die alle Bereiche und Ebenen des globalen Wohlergehens betreffen, und die auch in Unternehmensentscheidungen relevant sind.

Sie forschen und lehren im Spannungsfeld von Wirtschaft und gesellschaftlicher Verantwortung. Man könnte auch von zwei Polen sprechen, deren Ziele im Ursprung keine Überschneidungen haben, die aber in Ihrer Arbeit eine Schnittmenge und Gestaltungsgrundlage erhalten. Würden Sie das so bestätigen?  

Prof. Dr. Linda O’Riordan: Die Wahrnehmung, dass bei Entscheidungen zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verantwortung entweder ‚für‘ das eine oder ‚gegen‘ das andere gewählt werden muss, ist ein Irrtum und stellt ein großes Hindernis dar, wenn es darum geht, Lösungsansätze zu finden, bei denen Unternehmen Nachhaltigkeitsherausforderungen anpacken können. In der Praxis ist die ‚Wahrheit‘ selten schwarz oder weiß. Wenn wir uns an das universelle Naturgesetz erinnern, wissen wir, dass alles seine Vor- und Nachteile hat. Unser Beiratsmitglied Prof. Dr. Charles Hampden-Turner erklärt die Methodologie dahinter in einem Videoclip auf der KCC-Website sehr detailliert.

Um komplexe Probleme zu lösen, sind weder Egoismus noch Altruismus allein die Antwort, sondern Strategien, die eine harmonische Mischung aus beiden entgegengesetzten Werten bieten. Auf dieser Grundlage können Synergieeffekte genutzt werden: Unternehmen „verlieren“ nicht, wenn von ihren Strategien weitere Stakeholder als die Kapitalgeber profitieren. Entscheidungsträger in Unternehmen sollten verstehen, dass sie ihre Verantwortung, Gewinne zu erzielen am zuverlässigsten erfüllen, wenn sie sich zuerst für gute Beziehungen mit ihren anderen Interessengruppen, wie zum Beispiel Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten und der Community, einsetzen. Wir erforschen in diesem Zusammenhang im KCC derzeit Themen wie Circular Economy, Cradle to Cradle und Co-Creation, die sehr interessante erste Ergebnisse in diesen Zusammenhang liefern.

Also ist mehr Corporate Responsibility die Antwort auf die Nachhaltigkeitsherausforderungen?

Prof. Dr. Linda O’Riordan:Es ist ein Teil der Antwort, aber die Verantwortung liegt nicht nur bei den Unternehmen! Wir alle als individuelle Konsumenten können zum Beispiel wählen, welche Produkte und Dienstleistungen wir kaufen. Dadurch – ob bewusst oder unbewusst – besitzen wir sehr viel Macht. Wir können durch unser Konsumverhalten Veränderungen erzielen, wir müssen uns bewusst machen: Wenn wir uns entscheiden, etwas zu kaufen, stimmen wir für das Unternehmen und dessen Strategie!

Als Gesellschaft müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir zusammenleben wollen. Wenn wir sehen, welche Industrien oder Waren weltweit führend sind: Waffen, Alkohol, Tabak, Pharmazeutika – was sagt uns das über unsere Gesellschaft? Was sagt unser Medienverhalten über die Gesellschaft aus? Nutzen wir das Internet als starkes Medium, das es uns ermöglicht, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mit der ganzen Welt zu kommunizieren, Menschen miteinander zu verbinden, und dadurch gerechten Zugang zu wichtigen Information für alle zu erlangen? Nein – stattdessen gibt es die meisten Aufrufe für Pornografie und „Fake News“, die in der Informationsflut überall präsent sind. Thomas Hobbes‘ „Homo homini lupus“ bringt diese Lage zum Ausdruck, stattdessen könnte man sich jedoch fragen: Können wir uns nicht auf das konzentrieren, was uns verbindet und weiterbringt statt auf das, was uns gegenseitig schadet und trennt? Man darf die Gelegenheiten zur Veränderung nicht vorbeiziehen lassen und nicht gegen andere kämpfen, sondern muss stattdessen mit positiven, innovativen Alternativen überzeugen! Wenn wir verstehen, dass jede Schneeflocke für die Lawine verantwortlich ist, haben wir gemeinsam eine Chance, den Nachhaltigkeitsherausforderungen zu begegnen.

Um zurückzukommen zur Rolle der Wirtschaft in dieser Transformation: Was heißt dieses Verantwortungsprinzip dann konkret für Manager, wenn es um operative Entscheidungen wie zum Beispiel Preis, Erschwinglichkeit, Zugang zu akzeptablen Angeboten und die Kommunikationspolitik geht? 

Prof. Dr. Linda O’Riordan:Natürlich sind für verantwortungsbewusste strategische Unternehmensentscheidungen nach wie vor klassische Erfolgsfaktoren wie Qualität, Preis und Service wichtig. Aber das Leitmotiv nachhaltiger Unternehmensverantwortung sollte sein: Innovationen und Wachstum aus einem verantwortungsbewussten Wertschöpfungskreis zu bevorzugen, in dem die Interessen von Menschen, Naturressourcen und Gewinn in Einklang gebracht werden. Letztendlich sollte das Verantwortungsprinzip sogar statt einer Last, vielmehr als hochgeschätzte Angelegenheit betrachtet werden, das deutliche Differenzierungsmerkmale verschafft, wenn die Chance genutzt wird, aus innovativen Lösungsansätzen Wettbewerbsvorteile zu ziehen.

Eine neue Interpretation der Erfolgsfaktoren ist notwendig. Dabei müssen sich alle Beteiligten gemeinsam fragen und entscheiden: Wie wollen wir zusammenleben und wie sichern wir heute gemeinsam unsere Zukunft am effektivsten? Ein „Mindset-Reset“ muss in den Köpfen staatlicher Entscheidungsträger und der Gesellschaft ebenso wie bei den Unternehmens-Managern stattfinden. Um zu Ihrer Ausgangsfrage zurückzukehren: Das Bild der Pole stellt das Streben nach dem einen oder dem anderen dar, obwohl die Lösung im Verhältnis zwischen den beiden liegt, in der Vereinbarkeit der beiden gegensätzliche Werte!

In welcher Branche sehen Sie besonderen Handlungsbedarf?

Prof. Dr. Linda O’Riordan:Jede Branche kann davon profitieren, innovative Lösungen auszuloten, um ihre Verantwortungsbilanz im Sinne der SDGs 2030 ernsthaft zu prüfen. Dabei könnten sich die Unternehmen ihren konkreten Beitrag in Hinsicht auf Themen wie Gerechtigkeit, Wohlstand, das globale Wohlergehen und das Überleben der Menschheit in der Zukunft überlegen.

Um ein Beispiel zu nennen: Besonders viel Nachholbedarf gibt es meiner Meinung nach in der Immobilienwirtschaft. Fehlender bezahlbarer Wohnraum ist in Deutschland ein großes Problem. Gerade jetzt, wo es wieder kalt wird, wird das Problem wieder besonders deutlich. In Deutschland haben laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hunderttausende Menschen keine Wohnung, Tendenz steigend. Geschätzte rund 900.000 Menschen sind betroffen. Besonders besorgniserregend ist, dass auch geschätzt rund 32.000 Kinder und Jugendliche unter akuter Wohnungsnot leiden.

Die individuellen Ursachen für Wohnungslosigkeit können sehr unterschiedlich sein: Jobverlust, Überschuldung, Scheidung, aber auch das sogenannte “Working Poor“. Das ist das traurige Phänomen, dass Menschen, die arbeiten, so wenig verdienen, dass sie die teuren Mieten nicht zahlen können. Doch auch typische Mittelschichtfamilien haben laut einer Sprecherin der BAGW1 Schwierigkeiten im Konkurrenzkampf auf dem Wohnungsmarkt. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass sogar gutverdienenden Mietern im Rentenalter Armut droht, weil sie sich aufgrund der hohen Miet- und Kaufpreise während ihrer Arbeitstätigkeit keinen Wohnungskauf leisten konnten. Kurzum: Das derzeitige System fördert einen problematischen unsozialen Mechanismus. Hier ist das Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten gefragt: der Wirtschaft, aber auch der Gesellschaft, der Städte – alle müssen gemeinsam die Verantwortung tragen für das Wir und sich für die Chancengleichheit und den Wohlstand anderer Menschen einsetzen.  

Andere Länder machen es vor: In Finnland wird zum Beispiel eine Wohnung als Menschenrecht angesehen und so wurde in Helsinki der Umbau jedes freistehenden Gebäudes in Wohnungen finanziert. Laut eigener Angaben gibt es in der Stadt keine Obdachlosen mehr. In der Schweiz wird von privaten Finanzierungsprogrammen berichtet, die Chancengleichheitsstrategien entwickelt haben, durch die sowohl Eigentümer als auch Mieter finanziellen Nutzen ziehen. Mieter in der Schweiz haben eine höhere Lebensqualität, weil sie weniger Geld für Miete ausgeben müssen, während Eigentümer Mieterträge genießen, die anständiger mit ihren Werten und Gerechtigkeitssinn im Einklang stehen! Es ist auch in Deutschland Zeit zu handeln.

Sehen Sie in Deutschland auch positive Tendenzen?

Steigende Zahlen bei “Sustainable Responsible Investments“ (SRI) zeigen, dass Kapitalgeber zunehmend auf nachhaltige Investitionen schauen. Vielleicht schwappt langsam der Umschalttrend aus der USA auch hier herüber. Im Januar 2018 schickte Larry Fink, CEO des 6,3 Trillionen Dollar-Unternehmens BlackRock, einen Warnbrief an alle CEOs öffentlicher Unternehmen Amerikas, in dem er seine Erwartung darlegte, dass sie beginnen, für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft Rechenschaft abzulegen3. Fazit: Unternehmen, die wegschauen, können möglicherweise noch kurzfristige Erfolge genießen, langfristig aber tickt die Uhr. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland wünscht sich eine tiefgreifende Veränderung ihrer Lebenswelt4. Entscheidungsträger aus allen Branchen, aber gerade der Immobilienwirtschaft, die diesen Wunsch missachten, sind gut beraten umzudenken, bevor sie bald selbst „draußen in der Kälte“ von der Mehrheit ihrer wichtigen Stakeholder vergessen werden! 

Herzlichen Dank für das Interview, Professorin O’Riordan!

Wer Interesse daran hat, das Thema zu vertiefen, ist herzlich eingeladen, mit Prof. Dr. Linda O‘Riordan in Kontakt zu treten: Linda.ORiordan@fom.de.

Professorin O’Riordan lehrt International Management am FOM Hochschulzentrum Essen. Die Schwerpunkte ihrer Lehre sind Business Strategy, Unternehmensführung, Corporate Responsibility (CR) & Business Ethik, Interkulturelle Kompetenzen, Marketing, Sales und Customer Relationship Management (CRM) sowie Management Consulting.

Einige ihrer Aussagen hat sie auf Basis dieser Quellen getroffen: 1 Warena Rosenke, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), 2 Silke Fokken, Obdachlosigkeit in Deutschland: Wir haben ein Riesenproblem (21.12.2017), 3https://www.businessinsider.de/blackrock-ceo-larry-fink-just-sent-a-warning-to-ceos-everywhere-2018-1?r=US&IR=T (23.09.2018), 4 Next Germany: Aufbruch in die Neue Wir-Gesellschaft, Zukunftsinstitut GmbH (2017, s. 11).

Hier kann nachgelesen werden, in welchen Werken sie bereits zum Thema publiziert hat.

Das Interview führte Yasmin Lindner-Dehghan Manchadi M.A., Referentin Forschungskommunikation, 30.10.2018