Legasthenie und Dyskalkulie durch spielerisches Trainieren von Bewegungsreflexen vorbeugen  

12.07.2016 – Das Innenohr und die Nackenmuskeln lösen rudimentäre menschliche Bewegungsreflexe aus. Aufgrund dieser Reflexe werden die Augen im Raum adjustiert, wenn der Kopf bewegt wird. Die Augenbewegungen richten sich also an den Kopfbewegungen „automatisch“ aus. Diese Nachstellreflexe sind jedoch relativ stark (die Augen springen) und für kleine Kopfbewegungen mit gleichzeitigem präzisen Augenfokus auf eine kleine Stelle (wie beim Lesen) hinderlich. Werden die Reflexe in der Kindheit nicht ausreichend flexibilisiert, so kann dies Ursache für Lese- und Rechenschwäche sein: Laut einer Untersuchung von Goddard-Blythe lassen sich bis zu 70 Prozent aller Fälle von Dyskalkulie und Legasthenie zumindest teilweise auf unzureichend ausgebildete Bewegungsreflexe zurückführen. Der Frage, ob und inwieweit dieses Bewegungsreflexe durch geeignete Spiele trainieren lassen, ist Hayo Siemsen, PhD von der Hochschule Emden/Leer und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, nachgegangen. Zusammen mit Studierenden der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Prof. Dr. Joachim Schwarz vom ifes Institut für Empirie & Statistik der FOM hat er eine Untersuchung in zwei Kindergruppen eines Kindergartens in Heddesheim in der Nähe von Heidelberg durchgeführt.

Dafür wurde in Kooperation mit dem Schmidt-Spiele Verlag eine vereinfachte Version des beliebten Kartenspiels Ligretto entwickelt. Es ähnelt Spielen wie Canasta oder Solitaire, d.h. es werden Karten gezogen und in einer bestimmten Reihenfolge abgelegt. Dabei kommt es darauf an, die verschiedenen Ablagestapel auf dem Spieltisch simultan im Auge zu behalten. Aufgrund dessen eignet sich dieses Spiel zum Training der Bewegungsreflexe, insbesondere der Augenbewegungen in Kombination mit den Kopfbewegungen. Für die angepasste Version wurden die Karten kindgerecht vereinfacht, sowie Regelanpassungen für verschiedene Spielgeschwindigkeiten entwickelt, sodass diese sukzessive gesteigert werden kann.

Dieses angepasste Ligretto wurde dann über drei Wochen hinweg im Kindergarten gespielt. Dabei wurden verschiedene Tests durchgeführt, um die Fähigkeiten der Kinder, bei Bewegungen die Augen richtig zu fokussieren, zu messen. Zum einen wurde ein Standardtest für Augenspringen ohne Kopfbewegung im Raum (Augenreflex-Nystagmus) angewandt, um nachzuprüfen, dass das spielerische Training vor allem einen Effekt auf den Kopfstellreflex und nicht auf die Augenbewegungen alleine hat. Zum anderen wurden die Kinder mit einem Drehstuhl gedreht, wobei sie mit den Augen ein im Raum fest stehendes Objekt fokussieren sollten. Gemessen wurde insgesamt dreimal: einmal zu Beginn, einmal nach zehn Tagen und einmal zu Ende der drei Wochen.

Die Ergebnisse wurden am 17. Juni 2016 auf der Ernst Mach Centenary Conference in Wien vorgestellt. Es zeigte sich, dass bereits nach drei Wochen eine signifikante Verbesserung der Fokussierung auf ein festes Objekt eintritt, während sich beim Standardtest für das Augenspringen keine Verbesserung über die Zeit feststellen lässt. Dies deutet darauf hin, dass durch das spielerische Lernen tatsächlich der für Lese- und Rechenschwäche verantwortliche Kopfnachstellreflex verbessert werden konnte. Ob sich diese Reflexverbesserung langfristig stabilisieren lässt, oder ob sich dieser Reflex wieder verschlechtert, wenn das Spiel nicht mehr gespielt wird, muss allerdings noch untersucht werden.

Hayo Siemsen, PhD, Pädagogische Hochschule Heidelberg, und Prof. Dr. Joachim Schwarz, ifes Institut für Empirie & Statistik