Demografie interdisziplinär: Brave New Logistics-World  

Foto: Thinkstock/iStock
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01.04.2016 – Kann ein Weniger (an Menschen in Deutschland) auch ein Mehr (an Möglichkeiten für den Einzelnen) bedeuten? Mit dieser Frage haben sich Vertreterinnen und Vertreter der FOM Institute und KompetenzCentren befasst. Herausgekommen sind 12 individuelle Kurzbeiträge, die vielfältige Impulse und Denkanstöße liefern. Heute betrachten Prof. Dr. Matthias Klumpp und Sascha Bioly vom ild Institut für Logistik- & Dienstleistungsmanagement die in Anbetracht des demografischen Wandels limitierenden Faktoren von Logistik und den damit verbundenen Dienstleistungen – und zwar am Beispiel e-Commerce.

Die sogenannte säkulare Nachwuchsbeschränkung ist hierzulande seit dem Beginn der Industrialisierung um 1840 zu beobachten. Mit dem demografischen Wandel ist es also wie mit Weihnachten – plötzlich haben wir Heilig Abend und wirklich niemand hat es kommen sehen? Alle reden über die demografische Entwicklung und scheinbar weiß jeder, was damit auf einer Art Makroebene verbunden ist. Undifferenzierte und nicht näher erläuterte Schlagworte wie Fach- und Führungskräftemangel geistern unheilvoll durch die Medien. Aber wenn wir zukünftig weniger Menschen sind, brauchen wir nicht auch weniger Fach- und Führungskräfte? Um die tatsächlichen Auswirkungen des demografischen Wandels zu konkretisieren, müssen Einzelthemen fokussiert werden. Das wird beispielsweise im Forschungsschwertpunkt DO.WERT untersucht.

Gegen Jahresende, in der eigentlich besinnlichen Weihnachtszeit, erleben und erleiden viele Menschen logistischen Stress. Sei es nun wegen der Besorgung von Geschenken im stationären Einzelhandel oder aber der Beschaffung selbiger auf elektronischen Märkten von A wie Amazon bis Z wie Zalando. Immer mehr Menschen wollen immer mehr kaufen und die Waren legen dabei immer weitere Strecken zurück. Seit dem Jahr 2000 verdoppelte sich das weltweite Handelsvolumen. Doch was passiert, wenn uns der demografische Wandel in der Logistik erreicht?

Während es vor der digitalen Transformation, dem E-Commerce, völlig selbstverständlich war, dass ein Päckchen im Inland drei oder vier Tage vom Absender bis zum Empfänger benötigte, diskutiert man heute den Begriff Sofortness. Der Schriftsteller Peter Glaser prägte 2007 diesen Begriff. Der Internetblogger Sascha Lobo bringt das Wort mit digitaler Ungeduld in Zusammenhang und übersetzt Sofortness mit „dem Krönchen der Beschleunigung: Es geht nicht mehr schneller als sofort.“ Der Dokumentarfilmer Valentin Thurn drückt es ein wenig anklagend aus, wenn er findet, dass das Schlimmste daran sei, „dass wir so wie verzogene Kinder immer alles sofort haben wollen – und auch kriegen.“ Und dann kündigt eine Gewerkschaft Streiks für die mutmaßlichen Rechte der Angestellten an? Damit unsere Päckchen verspätet verschickt und Dank weiterer Warnstreiks von Lokführern und Piloten länger unterwegs sind, um dann im besten Fall am 6. Januar, also zusammen mit den Weisen aus dem Morgenland, einzutreffen?

Nachdem sich in den letzten Jahren die Lieferung binnen 24 Stunden von einem gegen Aufschlag zu erhaltendem Premiumprodukt zur aufpreislosen Normalität entwickelte, arbeiten KEP-Logistiker (Kurier-, Express-, Paketdienstleister) zurzeit an einer Sameday Delivery für Deutschland. Amazon-Gründer Jeff Bezos möchte mit Mini-Drohnen bestimmte Waren in ausgewählten Ballungsgebieten der USA binnen 30 Minuten zum Käufer bringen. Ob es sich dabei um einen globalen Trend oder eher um einen lokalen Nischenmarkt handelt, weiß heute noch niemand einzuschätzen. Aber Anbieter wie DHL, DPD und Amazon selbst beschäftigen sich mit dem Thema. In US-Großstädten setzt Amazon schon auf die Sonntagslieferung. Während am selben Tag noch nicht eingeführt ist, möchte eBay gegen Amazon punkten und experimentiert mit dem Produkt eBay Now, der Belieferung binnen einer Stunde. Das kostet im Moment 5 US$ extra und ist für ausgewählte Produkte verfügbar.

An dieser Stelle kann man sich die Zwischenfrage stellen, ob hier nicht eine Art modernes Jevons-Paradox zu beobachten ist. Während man sich vor einigen Jahren noch ein bis zwei Wochen vor einem Geburtstag oder vor Weihnachten Gedanken über das Was und Woher machte, reicht es zukünftig womöglich am 24.12. im Internet auf Sofortauslieferung zu klicken? Im Jahr 2017 fällt Heilig Abend übrigens das nächste Mal auf einen Sonntag, hoffentlich sind Geschenke bis dahin auch sofort verfügbar.

Insgesamt also rosige Aussichten für die Logistik? Ja, wären da nicht der demografische Wandel und der damit einhergehende, heute schon zu beobachtende Engpass beim Personal. Als limitierender Faktor von Logistik und den damit verbundenen Dienstleistungen wird exemplarisch im Weiteren das Fahrpersonal betrachtet. Eine Untersuchung beim gewerblichen Personal im Warenlager dürfte jedoch nicht signifikant anders aussehen.

Nach Angaben des TÜV Rheinland herrscht jetzt schon ein eklatanter Mangel an Lkw-Fahrenden und die Rekrutierung von geeignetem Personal wird immer schwieriger. Das belegt die nach Aussagen des TÜV repräsentative Studie Wer fährt die Trucks von morgen – Nachwuchs- und Fahrermangel in der Bundesrepublik Deutschland, bei der bundesweit Spediteure befragt wurden. So bestätigten 84 Prozent der Befragten, dass es in den letzten Jahren einen spürbaren Mangel an qualifizierten Berufskraftfahrenden gab. Die Gründe sind vielfältig, angefangen bei hohen physischen und psychischen Belastungen über die Vergütung und die Arbeitszeiten bis zum (schlechten) Image der Berufsgruppe in der Öffentlichkeit. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) nennt darüber hinaus in seiner Marktbeobachtung Güterverkehr detaillierte Anforderungen an das technische Verständnis und zahlreiche persönliche Eigenschaften.

Fakt ist, dass sich nach den Rückgängen in Folge der Wirtschaftskrise 2008/2009 die Anzahl der in der Bundesrepublik beschäftigten Kraftfahrenden in den Jahren 2010 und 2011 wieder erhöht hat. Im Jahr 2011 gab es nach Angaben des BAG rund 805.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Schaut man sich die Struktur der Kraftfahrzeugführenden an, so ist festzuhalten, dass der Anteil der Berufskraftfahrenden über 50 Jahre in den letzten zehn Jahren stark gestiegen ist und diese Altersgruppe inzwischen fast 40 Prozent aller Fahrenden ausmacht. Gefolgt von der Gruppe der 35 bis 49 Jährigen mit knapp 45 Prozent. Schreibt man diese Entwicklung nun fort und berücksichtigt man den oben beschriebenen steigenden Bedarf, so wird schnell deutlich, dass die Nachfrage nach Logistikdienstleistungen absehbar die vorhandenen Kapazitäten überschreiten wird.

Die Frage, ob ein Anstieg der Arbeitszeit den Rückgang des Arbeitskräfteangebots kompensieren kann, verneinen Autoren wie Susanne Wanger, Brigitte Weber oder Johann Fuchs. Selbst bei einer drastischen Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, sowie einer enormen Ausweitung der Jahresarbeitszeiten ist der Trend der Unterversorgung nur kurz zu stoppen. Deutschland muss sich längerfristig auf ein deutlich kleineres Arbeitsangebot einstellen. Ähnliche Aussagen treffen Institute wie McKinsey und Prognos. Selbst eine Vollbeschäftigung kann ab 2020 den negativ wirkenden demografischen Faktor nicht mehr ausgleichen. Einzig der wieder stetig steigende Zuwanderungssaldo in die BRD gibt Anlass zur Hoffnung und kann die demografische Lücke potenziell schließen, zumindest das Defizit abschwächen.

Die Logistikdienstleister sind von dieser Entwicklung genauso betroffen wie andere Bereiche unserer Wirtschaft. Wenn die oben angesprochene Gruppe der heute über 50 jährigen Fahrenden aus dem Berufsleben ausscheidet, bleibt perspektivisch fast nur die Automatisierung der KEP-Branche bis zur Tür des Endkunden. Und plötzlich klingt es gar nicht mehr so sehr nach Science Fiktion, wenn Amazon die Zustellung innerhalb von 30 Minuten plant – vollkommen automatisch per Drohne. Projektname: Amazon Prime Air. Dieses Produkt steht zwar noch nicht kurz vor der Markteinführung, es werden wohl noch einige Jahre vergehen, bis diese Form der Paketzustellung Realität wird. Aber bis Heiligabend 2017 ist ja auch noch ein wenig Zeit, ansonsten 2017 noch einmal oldschool mit Logistikstress. Heilig Abend 2023 kann die Sache dann schon ganz anders aussehen.

Prof. Dr. Matthias Klumpp und Sascha Bioly, ild Institut für Logistik- & Dienstleistungsmanagement

 

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