Demografie interdisziplinär: Die demografische Betroffenheit Deutschlands  

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04.03.2016 – Kann ein Weniger (an Menschen in Deutschland) auch ein Mehr (an Möglichkeiten für den Einzelnen) bedeuten? Mit dieser Frage haben sich Vertreterinnen und Vertreter der FOM Institute und KompetenzCentren befasst. Herausgekommen sind 12 individuelle Kurzbeiträge, die vielfältige Impulse und Denkanstöße liefern. Den Anfang macht Prof. Dr. Thomas Heupel. Der Prorektor Forschung skizziert – ausgehend von einer globalen über eine europäische Betrachtung – die demografische Prognose für Deutschland.

Megatrends beeinflussen als langfristige und übergreifende Transformationsprozesse das wirtschaftliche Handeln nachhaltig. Kennzeichnend für den von John Naisbitt erstmals verwendeten Begriff Megatrend ist eine klare, quantitativ empirische Vorhersehbarkeit eines Phänomens. Weiterhin sind Megatrends auf keine spezifische Region begrenzt sondern haben eine globale, umfassende und makropolitische Bedeutung.

Gerade mit dieser Kennzeichnung ist es nachvollziehbar, dass in der Listung der identifizierten Megatrends, der demografische Wandel einen Spitzenplatz erhält. Von ihm sind umfassende und teilweise existenzielle Veränderungen in fast allen Bereichen des Lebens zu erwarten. Er wird Auswirkungen auf die politischen Systeme, die Wertesysteme, das Konsumverhalten, die technische Entwicklung, die Umwelt, das Wirtschaftswachstum, die öffentliche Infrastruktur und die sozialen Sicherungssysteme haben (vgl. Hoch, G. / Heupel, T. 2013, S. 418).

Die demografische Entwicklung fällt global und national unterschiedlich aus. Amerikanische Untersuchungen belegen, dass die Weltgeburtenrate von 4,9 auf 2,55 Kinder in den letzten 50 Jahren gefallen ist (vgl. Juncker, K. / Nietert, B. 2010, S. 15). Für die Zukunft prognostiziert die Forschung einen weiteren Rückgang auf nur zwei Kinder pro Frau im Jahr 2050. Auf der anderen Seite hat in den Entwicklungsländern eine hohe Sterblichkeitsrate in der Vergangenheit zu einer nur niedrigen Lebenserwartung geführt. Bedingt durch eine bessere medizinische Versorgung konnte aber in diesen Ländern die Lebenserwartung in den letzten Jahren stark verbessert werden. Daher liegt das Medianalter heute um vier Jahre höher als noch vor 50 Jahren (vgl. Juncker, K. / Nietert, B. 2010, S. 15).

Betrachtet man Europa, so ist auch hier eine stark heterogene Entwicklung zu prognostizieren. Entsprechend einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sind es die Faktoren Wirtschaftsleistung, Alterszusammensetzung, Beschäftigungsgrad, Investitionen in Forschung und Bildung sowie Umweltbelastungen, die einen signifikanten Einfluss auf die zukünftige Entwicklung haben (vgl. Kröhnert, S. et al. 2008, S. 4). Demnach wird zukünftig im Norden Europas eine gute wirtschaftliche Lage gepaart mit einer überdurchschnittlichen Geburtenrate zu erwarten sein. Der Bildungsstand und die Alterszusammensetzung sind hier ebenfalls deutlich besser vorhergesagt. Insgesamt überwiegen die positiven Einschätzungen für den englischen, skandinavischen, französischen und polnischen Raum. Andere – zumeist mittel- und osteuropäische Staaten – erlebten seit den 90ern einen starken Rückgang der Geburtenzahlen. Zudem drängen Millionen osteuropäischer Arbeitskräfte auf der Suche nach Anstellung in zentral- oder südeuropäische Ballungsgebiete. Einer Bevölkerungsschrumpfung ist mittlerweile nicht nur Deutschland alleine unterlegen, sondern auch Italien, Spanien und Österreich weisen sinkende Bevölkerungszahlen auf.

Wie aber sieht es mit Deutschland selbst aus? Hier kann seit 2002 auch ein positiver Zuwanderungsüberhang den Bevölkerungsrückgang nicht verhindern. Vielmehr ist zukünftig sogar ein weiterer dramatischer Rückgang der Bevölkerung zu erwarten. Neben dem langjährigen negativen Saldo aus Geburten und Sterbefällen ist seit 2008 wiederholt auch eine Nettoauswanderung festgestellt worden. Rechnet man dies hoch, so ergibt sich bis zum Jahr 2030 ein Bevölkerungsrückgang um fünf Millionen Personen oder entsprechend sechs Prozent der momentanen Gesamtbevölkerung. Die zu Grunde gelegten Annahmen sind 1,4 Kinder pro gebärfähige Frau und eine Nettozuwanderung von jährlich 100.000 Personen (Statistisches Bundesamt 2009, S. 15).

Deutschland wird älter: Neben einer rückläufigen Gesamtbevölkerung können weiterhin auch Verschiebungen innerhalb der Bevölkerungsstruktur identifiziert werden. Die Überalterung der deutschen Gesellschaft wird dabei als ein ausgewiesener Kernpunkt der Demografie-Problematik identifiziert. Waren 1990 nur 13 Prozent und 2000 ca. 14 Prozent der Bevölkerung über 67 Jahre, sind es 2010 schon rund 19 Prozent gewesen. Der Höhepunkt der gesellschaftlichen Altersentwicklung wird voraussichtlich 2030 erreicht, wenn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge in das Renteneintrittsalter gelangen. Bis zu diesem Zeitpunkt steigt der Anteil der Bevölkerung über 67 auf rund 30 Prozent an und der durchschnittliche Deutsche wird dann 43 Jahre (statt 34 Jahre in 2010) alt sein. Diese extreme Verschiebung in nur zwanzig Jahren beschreibt die schnelle Entwicklung zu einer zunehmend überalternden Gesellschaft. Hieraus leiten sich zahlreiche bevölkerungsstrukturelle Problematiken und Implikationen für das Wirtschaftsleben ab. Der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung schrumpft seit 1990 kontinuierlich. Die unter 18 Jährigen werden von derzeit 19 Prozent auf unter 16 Prozent im Jahre 2030 abnehmen.

Implikationen neben dem War for Talents: Schon heute fehlen in bestimmten Berufsgruppen und Branchen qualifizierte Fachkräfte. Dieser Mangel „ist ein ernst zu nehmender Vorbote der sich weiter verstärkenden demographischen Entwicklung.“ (vgl. Flato, E. / Reinbold-Scheible, S. 2008, S. 7-8). So werden im Norden und Osten Deutschlands zunehmend größere Akquiseanstrengungen in der Rekrutierung bestehen und ländliche Räume werden gegenüber den attraktiveren Städten auch verlieren.

Aber es gibt auch weitere Felder einer demografischen Betroffenheit, die in der medialen Diskussion nicht immer vordergründig adressiert werden. Wichtige Themenfelder, die im Rahmen dieser Jahresschrift erfasst werden sollen, sind bspw. die Harmonisierung von Alt und Jung in der Arbeitswelt „Arbeitest Du noch oder lebst Du schon?“ (Hellert/Grzesik; iap), der Paradigmenwechsel in der Logistik „Brave New Logistics-World (Klumpp/Bioly; ild) sowie die Integration älterer Studierender in die Konzeption eines lebenslangen Lernens „Studium ist für alle da!“ (Zimmer; ipo) und „Neuanfang mit 40 – auf die alten Tage“ (Hoffmann/Grauer; KCI).

Weitere Spotlights fallen auf die Themenkontexte zukünftige medizinische Versorgung Deutschlands: „Was uns das kostet“ (Thielscher; KCG), „Alt heißt nicht träge!“ (Büttner; mis), „Gute Lehre – gute Karriereaussichten“ (Fichtner-Rosada; KCD) sowie „Zahlen – Daten – Fakten“ (Schwarz; ifes), „Älter, kranker, einsamer“ (Heinemann; KCC) und „Vorsorgen – aber sinnvoll!“ (Frère, dips).

Die breit gefächerten Facetten der Demografie-Betroffenheit bieten sicher einen abwechslungsreichen Zugang zum Thema und geben Denkanstöße für eine individuelle thematische Auseinandersetzung und Aufarbeitung.

Prof. Dr. Thomas Heupel, FOM Prorektor Forschung

 

Literatur

Flato, E. / Reinbold-Scheible, S. (2008): Zukunftsweisendes Personalmanagement: Herausforderung demografischer Wandel: Fachkräfte gewinnen, Talente halten und Erfahrung nutzen. MI Wirtschaftsbuch.

Hoch, G. / Heupel, T. (2013): Demografiekonformes Controlling in KMU. In: Göke, M. / Heupel, T. (Hrsg.). Wirtschaftliche Implikationen des demografischen Wandels, S. 417-432, Springer Gabler, Wiesbaden.

Juncker, K. / Nietert, B. (2010): Demographic Banking. Fritz Knapp Verlag.

Kröhnert, S. / Hoßmann, I. / Klingholz, R. (2008): Die demografische Zukunft von Europa – wie sich Regionen verändern. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Statistisches Bundesamt (2009): Demografischer Wandel in Deutschland – Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung im Bund und in den Ländern, Wiesbaden.

Die weiteren Beiträge der Reihe „Demografie interdisziplinär“ im Überblick: